Blutiger Aufstand in der Ukraine Barrikadenkampf auf dem Maidan — und im gesamten Land

Kiew · Nach den Straßenschlachten in Kiew kommt es jetzt auch in der Westukraine zu Ausschreitungen. Die Opposition sammelt ihre Kräfte.

Ausschreitungen, Gewalt, Blut und Tote: der Mittwoch in Kiew
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Der Mann hat eine Schramme im Gesicht, er kauert angekettet an einen Pfosten auf der Bühne der Protestbewegung "Euromaidan" im ukrainischen Provinzstädtchen Luzk. "Auf die Knie!", brüllt die Menge und: "Baschkalenko in den Knast!" Aleksandr Baschkalenko ist der Gouverneur von Wolhynien. Auch in dieser ärmlichen Region im Nordwesten der Ukraine ist die Revolution angekommen. Am Morgen nach den blutigen Straßenschlachten in Kiew haben Regierungsgegner das Gebäude der Gebietsverwaltung und das Polizeihauptquartier gestürmt. Als der Gouverneur versucht, die wütende Menge zu beruhigen, wird er von dem Mob gepackt. Er soll auf Knien um Verzeihung bitten und sein eigenes Rücktrittsgesuch unterzeichnen. Als Baschkalenko sich weigert, landet er angekettet auf der Bühne.

Szenen der Gewalt spielten sich in vielen Provinzstädten ab. In Lwiw (Lemberg) im Westen des Landes besetzten Regierungsgegner das regionale Innenministerium, die Staatsanwaltschaft, die Zentrale des Geheimdienstes SBU sowie mehrere Polizeiwachen. Dabei kamen sie offenbar auch an Munition. In Chmelnizki etwas östlich von Lwiw stürmten Demonstranten ebenfalls die Gebietsverwaltung. Nach Angaben der Partei "Udar" ("Schlag") des Boxweltmeisters Vitali Klitschko wurde dort ein Demonstrant von einem Geheimdienstmitarbeiter erschossen. Im nahen Ternopil verbrannte eine wütende Menge Akten aus der Generalstaatsanwaltschaft. In Odessa am Schwarzen Meer scheiterte der Versuch, die Gebietsadministration zu besetzen, weil 100 Regierungsanhänger mit Baseballschlägern das Gebäude umstellt hatten.

In der Hauptstadt Kiew blieb die Lage angespannt. In der Nacht hatten Einsatztruppen versucht, das Zeltlager der Regierungsgegner auf dem Unabhängigkeitsplatz zu stürmen. Die etwa 20.000 Demonstranten konnten den Platz aber die Nacht hindurch verteidigen. Bei den Kämpfen waren mindestens 26 Menschen ums Leben gekommen, davon zehn Polizisten. In den Krankenhäusern wurden nach Angaben der Behörden 263 verletzte Zivilisten und 342 Polizisten behandelt. Die Zahl der Regierungsgegner mit Verletzungen dürfte aber wesentlich höher sein. Viele Demonstranten lassen sich aus Angst vor Festnahmen nicht in den Krankenhäusern behandeln, sondern an den medizinischen Versorgungspunkten der Opposition.

Blutiger Kampf um den Maidan in Kiew
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Auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, im Zentrum stehen sich Sicherheitskräfte und Demonstranten gegenüber. Brennende Zelte, Autoreifen und Holzstöße dienen den Regierungsgegnern als Sichtbarriere. Feuerwerkskörper und Brandsätze fliegen regelmäßig auf die Reihen der schwer bewaffneten Polizei. Von einer Bühne aus peitschen Redner die Regierungsgegner zum Durchhalten auf. Immer wieder erklingt die Nationalhymne. Pastorale Choräle hallen über den strategisch wichtigen Maidan, wo noch vor wenigen Wochen Volksfeststimmung und friedliche Atmosphäre herrschte. Auf dem gesamten Maidan fehlen mittlerweile die Pflastersteine — die Demonstranten haben sie im Kampf mit der Polizei verbraucht oder zu Hindernissen gegen die Polizei aufgetürmt.

Das Gewerkschaftshaus, das der Opposition während der vergangenen zweieinhalb Monate als Zentrale diente, ist ausgebrannt. Die Regierungsgegner haben nun das gegenüberliegende Zentralpostamt unter ihre Kontrolle gebracht. Das Notfall-Lazarett des Gewerkschaftshauses ist ins Michailowski-Kloster verlegt worden. Ukrainische Medien zeigen Bilder von Verletzten, die zwischen Ikonen in der Kirche versorgt werden. Frauen und Kinder sind auf den Straßen in Kiews Zentrum kaum noch zu sehen. An vielen Ecken wachen Verkehrspolizisten mit automatischen Waffen.

Der Geheimdienst SBU kündigte eine "Anti-Terror-Aktion" im ganzen Land an. "Radikale und extremistische Gruppierungen stellen mit ihren Handlungen eine reale Gefahr für das Leben von Millionen Ukrainern dar", hieß es in einer Erklärung. Die Opposition richtete sich auf eine weitere Offensive gegen den Unabhängigkeitsplatz ein. "Wir bitten alle Kiewer Bürger, die ihre Hauptstadt und ihr Land gegen eine kriminelle Okkupation verteidigen wollen, sich auf dem Maidan zu versammeln, um der Attacke zu widerstehen", hieß es in einem Aufruf. Trotz Polizeisperren auf wichtigen Zufahrtsstraßen waren mehrere Busse mit Oppositionsanhängern aus dem Westen des Landes in die Hauptstadt gelangt.

(RP)
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