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Analyse Der Ukraine läuft die Zeit davon

Kiew/Düsseldorf · In Kiew toben Machtkämpfe, während die Reformen stocken. Im Osten der Ukraine zerbröselt der vor einem Jahr vereinbarte Waffenstillstand. Das Land droht zwischen Missständen und Aggression zerrieben zu werden.

 Retten, was zu retten ist: Ein Mann durchsucht eine Hausruine in Donezk.

Retten, was zu retten ist: Ein Mann durchsucht eine Hausruine in Donezk.

Foto: dpa, rp bjw

Hass auf Russland, Wut auf die eigenen Politiker, Enttäuschung über Europa: Die Stimmung in der Ukraine ist explosiv. Nichts, oder doch beinahe nichts, so scheint es vielen Menschen, hat sich zum Besseren gewendet, seit vor zwei Jahren nach Massenprotesten und blutigen Auseinandersetzungen auf dem Maidan-Platz in Kiew der korrupte Präsident Viktor Janukowitsch aus dem Land gejagt wurde. Ist die Ukraine also, entgegen allen revolutionären Hoffnungen, doch ein "failed state", ein gescheiterter oder jedenfalls ein scheiternder Staat?

Es spricht einiges dafür: Die Korruption, die um die Jahreswende 2013/2014 einer der wichtigsten Auslöser der Revolution war, wuchert wie eh und je. Schlimmer noch: Die berüchtigten Oligarchen halten die Schalthebel der Macht weiter fest in den Händen. Es ist weder Präsident Petro Poroschenko noch der Regierung von Premierminister Arseni Jazenjuk gelungen, sich aus dem Klammergriff der Superreichen zu befreien - soweit sie dies überhaupt versucht haben. Immerhin sind beide Vertreter der Vor-Maidan-Eliten. Hinzu kommen die andauernde Wirtschaftskrise und der weiter schwelende kriegerische Konflikt in der Ostukraine. Einem Krieg, dem bisher mehr als 9000 Menschen zum Opfer gefallen sind.

Kiew: Der Ukraine läuft die Zeit davon
Foto: dpa, RP

Das ist die Lage, in der die Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault, jetzt nach Kiew gereist sind, um den enttäuschten Ukrainern ihre Solidarität zu versichern und sie zum Durchhalten oder sogar zu einem neuen Aufbruch zu ermuntern.

Konkret stellt sich die Frage, wie Jazenjuk nach dem Verlust seiner Mehrheit im Parlament weiterregieren kann. Der als pro-westlich geltende Regierungschef hat einen beispiellosen Absturz seiner Popularität zu verkraften; er gilt heute vielen Ukrainern als Symbolfigur einer Politik, die mit den alten Seilschaften keineswegs so aufgeräumt hat wie erhofft. Ein Misstrauensvotum hat Jazenjuk gerade nur knapp überstanden, obwohl sich Präsident Poroschenko gegen ihn gestellt hatte. Viele sind überzeugt, dass die Oligarchen dabei im Hintergrund die Strippen gezogen haben. Vorerst bleibt der 41-Jährige nun im Amt, aber unter Umständen könnten schon im März vorgezogene Parlamentswahlen nötig werden.

Die nächsten Monate dürften entscheidend dafür werden, wie es mit der Ukraine weitergeht. Das Schicksal des Landes entscheidet sich daran, ob die versprochenen Reformen, die Außenminister Steinmeier und sein französischer Amtskollege in Kiew energisch einforderten, endlich umgesetzt werden. Mindestens ebenso entscheidend ist aber, ob die Friedensvereinbarungen für den Osten des Landes, die vor einem Jahr in der weißrussischen Hauptstadt Minsk unterschrieben wurden, überhaupt noch eine Chance haben. Damals handelte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die der Form halber den französischen Präsidenten François Hollande an ihrer Seite hatte, mit Russlands Präsident Wladimir Putin ein Abkommen aus, das als "Minsk II" bekannt geworden ist. Zentrale Punkte waren eine Waffenruhe und der Abzug schwerer Artillerie unter OSZE-Aufsicht sowie der Beginn eines politischen Prozesses unter Einbeziehung der Separatisten.

Putin trat am Morgen nach den Verhandlungen vor die Kameras und frohlockte. Er fühlte sich als Sieger, und das zu Recht, denn der frühe Verzicht des Westens auf den Einsatz militärischer Mittel in der Ukraine hatte ihm dort die rechtlose Macht des Stärkeren verliehen. Die Unterschrift unter Minsk II war noch nicht trocken, da ließ Putin die Separatisten den Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe erobern - ein klarer Vertragsbruch.

Merkel ertrug es illusionslos

Die Ostdeutsche Merkel hat all dies illusionslos ertragen. Sie hat früh Parallelen zwischen dem "Fall Ukraine" und der Lage im Ostblock unter sowjetischer Herrschaft gezogen. Manchmal dauere es eben Jahre oder Jahrzehnte, bis sich ein Konflikt lösen lasse, ließ sie verlauten. Am Ende werde die Freiheit siegen, und mit ihr die Demokratie. Mit Blick auf Putins Russland und die Ukraine heißt das: Vor uns und vor allem vor den Menschen in der Region liegt eine mehr oder minder lange Leidenszeit.

Das ist natürlich eine unbefriedigende Erkenntnis, und es gibt in der Ukraine verständlicherweise eine große Ungeduld und viel Unmut über die ungerechte Lage. Aber Politik beginnt nun einmal beim Betrachten der Realität. Putins augenblickliche, militärisch aufgeblähte Stärke ist eine Tatsache. Merkels Ziel war es vor einem Jahr in Minsk, Russlands Vormarsch in der Ukraine zu stoppen und einzudämmen. Die Eindämmung ist vorerst gelungen. Aber die latente militärische Bedrohung im Osten und die anhaltende Verletzung der ukrainischen Souveränität, zu der auch die russische Annexion der Krim zählt, bedrohen die Stabilität des Landes.

Dinge wurden lange nicht beim Namen genannt

Weil die Ukraine ein Staat ist, der als Opfer einer Aggression ums Überleben kämpft, hat man sich im Westen auch lange gescheut, die Dinge beim Namen zu nennen. Doch die teils harschen Reaktionen auf die jüngsten Machtkämpfe in Kiew zeigen, dass die Geduld allmählich zu Ende geht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Auszahlung von Hilfsgeldern in Milliardenhöhe wegen der stockenden Reformen schon vor Monaten gestoppt. Zwar stemmen sich viele Ukrainer gegen den Abwärtssog, Hunderttausende engagieren sich in Hilfsprojekten, mutige Journalisten versuchen, Missstände aufzudecken. Aber solange die politischen Parteien, Behörden und Fernsehsender Instrumente in den Händen der Oligarchen bleiben, kann sich die Ukraine nicht wirklich verändern.

Die EU hat nach 1989 enorme Erfahrungen damit gesammelt, gescheiterten Staaten wieder auf die Beine zu helfen. Sie hat dabei zweifellos Fehler gemacht. Aber daraus lässt sich lernen. Und nicht zuletzt zeigt das Negativbeispiel Russland, was die Ukraine an ihrer defekten Demokratie immerhin hat: eine lebendige Hoffnung auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die weiter im Osten längst gestorben ist.

(RP)
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