Erdogan und die Türkei Ausnahmezustand - und jetzt?

Berlin/Ankara · Erst Massenfestnahmen, dann systematische "Säuberungen". Und nun folgt der Ausnahmezustand in der Türkei. Auch die Menschenrechte gelten nur noch eingeschränkt. Was sind die Konsequenzen? Fragen und Antworten.

 AKP-Unterstützer ziehen mit Bildern von Staatsgründer Atatürk und Erdogan durch die Straßen von Istanbul.

AKP-Unterstützer ziehen mit Bildern von Staatsgründer Atatürk und Erdogan durch die Straßen von Istanbul.

Foto: ap, TS LP

Die türkische Regierung versicherte, dass die Menschen von den Auswirkungen des am frühen Morgen in Kraft getretenen Ausnahmezustands nichts merken werden. Anders als 1980 nach dem Militärputsch gelte auch nicht das Kriegsrecht. Welche Folgen zu erwarten sind, sollen die wichtigsten Fragen und Antworten aufgreifen.

Was ist die Begründung für den Ausnahmezustand?

Laut türkischer Verfassung kann das Kabinett unter Vorsitz des Staatspräsidenten den Ausnahmezustand verhängen, wenn "weit verbreitete Gewaltakte zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" führen oder ein "gravierender Verfall der öffentlichen Ordnung" vorliegt. Die Regierung erklärte, mit dem Ausnahmezustand müsse ein drohender weiterer Putsch verhindert werden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan verwies auf die Anhänger des Islampredigers Fethullah Gülen, die er für den Putschversuch von letzten Freitag verantwortlich macht. "Egal wohin sie fliegen, wir sind ihnen auf den Fersen", kündigte er an.

Was darf Staatschef Erdogan nun?

Er kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, gegen die nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden darf. Das Parlament bekommt sie vorgelegt, dort aber hat Erdogan eine sichere Mehrheit. Grundrechte (außer das auf Leben) dürfen eingeschränkt werden. Es geht dann unter anderem um Ausgangssperren, Fahr-, Versammlungs- und Demonstrationsverbote, Durchsuchungen, Verkehrskontrollen, Zeitungsverbote, Medienkontrollen.

Was darf er nicht?

Verpflichtungen nach internationalem Recht dürfen laut Verfassung nicht gebrochen werden, jedoch gehörte zu den ersten Maßnahmen der Regierung, die Europäische Menschenrechtskonvention in Teilen außer Kraft zu setzen. Das ist dann erlaubt, wenn ein Staat in seiner Existenz bedroht wird. Niemand darf laut türkischer Verfassung im Ausnahmezustand gezwungen werden, Religion, Gewissen oder Meinung zu offenbaren oder eben dafür bestraft werden. Es gilt die Unschuldsvermutung bis zur Gerichtsentscheidung, und rückwirkend dürfen Gesetzesänderungen auch nicht sein.

Wie sieht das die Opposition? Viele Gülen-Anhänger sind, soweit noch nicht festgenommen, untergetaucht und auf der Flucht. Sie sprechen von Pogromstimmung. Der Fraktionsvize der sozialdemokratischen CHP, Özgür Özel, nannte den Ausnahmezustand einen "zivilen Staatsstreich". Ziya Pir, Abgeordneter der prokurdischen Linkspartei HDP, sagte unserer Redaktion: "Unter dem Deckmantel der Säuberungsaktion werden nicht nur Gülenisten, sondern auch Aleviten, Kurden und Kemalisten entlassen, verhaftet und verfolgt."

Wie reagiert das Ausland?

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) forderte die Türkei auf, den Ausnahmezustand möglichst kurz zu halten. Es müssten Rechtsstaatlichkeit, Augenmaß und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz bestellte demonstrativ den türkischen Botschafter ein. Der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump zollte Erdogan "Respekt", dass er die Situation wieder in den Griff bekommen habe.

Droht ein Bruch des Flüchtlings-Abkommens?

Bislang hat die Türkei keinen Zusammenhang zwischen dem Putschversuch, den "Säuberungen" und dem Übereinkommen mit der EU zum Stopp der Flüchtlingsbewegung über die Ägäis und zur Rücknahme von Migranten hergestellt. Als Bedingung machte Erdogan in der Vergangenheit jedoch die Visa-Freiheit, über die im September wieder verhandelt wird. Ob die EU die Voraussetzungen als erfüllt ansieht, ist mit dem massiven Umgang mit "Terrorismus"-Verdacht eher unwahrscheinlich. Genau an dieser Stelle sollte die Türkei abrüsten.

Können die vielen Tausend entlassenen Lehrer und Wissenschaftler mit Asyl in Deutschland rechnen?

Der renommierte Konstanzer Asylrechtsexperte Kay Hailbronner unterstreicht, dass eine berufliche Benachteiligung, wie etwa eine Suspendierung, in der Regel nicht ausreiche, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Sie müsste in ihrem Schweregrad schon einer Beeinträchtigung an Leib und Leben gleichkommen, also eine völlige Existenzvernichtung. Er verwies darauf, dass bei der Einzelfallprüfung neben der Suspendierung aber auch andere Formen der "Einschüchterung und Bedrohung" eine Rolle spielen könnten.

(RP)
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