Emanzipation in Nordafrika Marokkos Frauen wollen gleiche Rechte

Marrakesch · Auf dem Papier hat das nordafrikanische Königreich ein vergleichsweise modernes Familienrecht, das König Mohammed VI. schon 2004 in Kraft setzen ließ. Doch mit der Umsetzung der Reformen hapert es. Im Alltag sehen sich viele Frauen immer noch Diskriminierung ausgesetzt. Dahinter steckt häufig eine ultrakonservative Interpretation des Korans.

 Eine junge Frau fährt auf dem Moped durch das Stadtzentrum von Marrakesch. Viele Frauen warten derzeit vergeblich auf die Umsetzung von Reformen.

Eine junge Frau fährt auf dem Moped durch das Stadtzentrum von Marrakesch. Viele Frauen warten derzeit vergeblich auf die Umsetzung von Reformen.

Foto: AFP

Wenn Aicha Ech-Channa über den berühmten Marktplatz "Djeema el Fna" in Marrakesch schlendert, wird sie behandelt wie ein Filmstar: Frauen sprechen sie an und wollen sich mit ihr fotografieren lassen, junge Mädchen bleiben stehen und winken ihr zu, Männer schütteln begeistert ihre Hand. Dabei nimmt die resolute Frauenrechtlerin kein Blatt vor den Mund, wenn es um Missstände im Königreich Marokko geht.

Ungerechtigkeit macht mich wütend

Gerade erst hat sie in einer TV-Talkshow lautstark die Entscheidung eines Richters kritisiert. Der hatte sich geweigert, ein uneheliches Kind anzuerkennen, obwohl der Mann die Vaterschaft übernehmen und die Frau heiraten wollte. "Ungerechtigkeit macht mich wütend. Und am meisten stören mich Leute, die Religion als Vorwand nehmen, um Frauen zu unterdrücken," sagt die 70-Jährige.

Aicha Ech-Channa ist in Marrakesch, der Metropole im Südwesten Marokkos, geboren und leitet die Organisation "Association Solidarité Féminine" (Verein für Frauen-Solidarität), die sich für die Rechte unverheirateter Frauen und deren Kinder einsetzt. In Talkshows, im Radio und bei Podiumsdiskussionen spricht sie selbstbewusst über Tabu-Themen wie Sex vor der Ehe, Prostitution, sexuellen Missbrauch, verfasst Petitionen und organisiert Kampagnen. Wenn die energische Frau mit den kurzen Locken davon erzählt, kann man sich lebhaft vorstellen, dass ihre Stimme in der Öffentlichkeit Gehör findet.

Schleier statt Schule

Doch das war nicht immer so. Als Aicha zwölf Jahre alt war, beschloss ihr Stiefvater, dass sie den Schleier tragen und nicht mehr zur Schule gehen sollte. Ihre Mutter lehnte sich jedoch dagegen auf. "Sie hat mich heimlich in einen Bus nach Casablanca gesetzt und zu Freunden geschickt." Die hätten dann Geld gesammelt, damit sie zur Schule gehen konnte, erzählt sie. Nach dem Abschluss arbeitete sie als Krankenschwester in Casablanca. Bei der Arbeit auf der Sozialstation seien ihr immer wieder junge, unverheiratete Frauen begegnet, die schwanger waren oder ein Kind hatten und deren Familie sie auf die Straße gesetzt hatte. "Ein uneheliches Kind ist in Marokko ein Tabu. Die Frauen waren völlig verzweifelt und wussten nicht, wohin", erzählt Aicha. Viele Mütter setzten ihr Kind einfach aus und arbeiteten als Prostituierte, weil sie keinen Beruf gelernt hatten.

Aicha kam deshalb auf die Idee, einen Kindergarten zu eröffnen. "Das war aber nicht die richtige Maßnahme, weil die Mütter eine Wohnung und richtige Jobs brauchten." 1985 gründete sie dann die "Association Solidarité Féminine", die mit internationaler Unterstützung, zum Beispiel auch deutscher Stiftungen, die Aus- und Weiterbildungen für unverheiratete Mütter organisiert, dazu Unterkünfte, Sozialberatung und Krankenversicherung.

Gesellschaft ist gespalten

Geld vom Staat bekommt Aicha Ech-Channa dafür nicht. Wohl aber politische Unterstützung von höchster Stelle: dem König. "Unsere Gesellschaft ist gespalten zwischen Modernisierern und Islamisten", sagt sie. "Die Islamisten haben mich beschimpft und behauptet, ich fördere die Prostitution. Der König dagegen will Marokko schrittweise demokratisieren und hat sich auf die Seite der Frauen gestellt."

Unter dem Druck der Demokratiebewegung in den arabischen Nachbarländern ließ Mohammed VI. im Juli über eine neue Verfassung abstimmen, die jetzt erstmals auch die Menschenrechte sowie die Gleichheit von Mann und Frau festschreibt. Es ist nicht der erste Schritt in diese Richtung: Bereits 2004 erhielt Marokko ein neues Familienrecht, das seither für den arabischen Raum als vorbildlich gilt.

Gehorsamspflicht abgeschafft

Kernpunkte sind: Die Gehorsamspflicht der Frauen gegenüber ihren Ehemännern wurde abgeschafft. Die Frau braucht keinen männlichen Vormund mehr, um zu heiraten, die Möglichkeiten der Polygamie wurden stark eingeschränkt. Die Gesetzgeber erleichterten die Scheidung und setzten das Mindestheiratsalter auf 18 Jahre herauf. Zu der Reform gehört auch, dass der Richter einen Gentest anordnen kann und der Vater die Verantwortung für ein uneheliches Kind übernehmen muss.

In der Praxis hätten die Richter jedoch bei der Auslegung der Gesetze zu großen Spielraum, kritisiert die Frauenrechtlerin So würden viele einen Gentest ablehnen oder verlangen, dass die Frau ihn bezahlt — und die hat meist kein Geld. Eine unverheiratete Mutter gilt weiterhin als Prostituierte, deren Kind von der Gesellschaft abgelehnt wird. "Modernisierer sind wir bisher nur auf dem Papier", sagt Aicha. Daher müsse man die Autoritäten immer wieder daran erinnern, dass sie die Reformen auch umsetzen.

Anfangen in der Familie

"Wer das Land demokratisieren will, muss in der Familie damit anfangen. Dazu gehört die Gleichstellung von Männern und Frauen", findet auch Aicha Hajjami, Professorin für islamisches Recht an der Universität von Marrakesch. Zwar habe Marokko in diesem Bereich in den letzten Jahren Fortschritte gemacht. Auf Frauen, die gegen Diskriminierung aufbegehrten, werde jedoch noch immer subtil Druck ausgeübt.

"Man sagt ihnen, ihr Verhalten widerspreche der Scharia, dem religiösen Gesetz des Islam. Aber das ist falsch. Das neue Familienrecht ist viel näher an der Scharia als das alte." Die Modernisierungsgegner hätten die Scharia im Original nie gelesen und orientierten sich an den restriktiven Ableitungen der malekitischen Schule, die nicht dem Geist der Ursprungstexte entsprächen, so die gläubige Muslimin.

"Bildung für Männer und Frauen

Im Koran stehe zum Beispiel, dass es nicht erlaubt sei, eine Frau gegen ihren Willen zu verheiraten. Zudem habe das islamische Recht nicht die Polygamie erlaubt, sondern sie limitiert. Darüber hinaus handle es sich um spirituelle Texte, keine Rechtsgrundlage, die man der Neuzeit anpassen müsse. "In der Scharia sagt der Prophet: Bildung ist obligatorisch für Frauen und Männer. Frauen haben das Recht, zu lernen und zu lehren. Das möchte ich verbreiten und mit den Vorurteilen gegenüber unserer Religion aufräumen", so die Mutter zweier Töchter.

Zum Thema "Islam und Frauenrechte" hält Aicha Hajjami deshalb Vorlesungen an der Uni, veröffentlicht Bücher und diskutiert auf Konferenzen in Kairo, Brüssel und Paris. In der Praxis ist es mit der Bildung jedoch nicht so einfach in einem Land, in dem gut die Hälfte der Frauen weder lesen noch schreiben kann. In den ländlichen Gebieten sind es sogar bis zu 70 Prozent, sagt Jamila Hassoune. "Wie sollen die ihre Rechte einfordern? Die meisten wissen nicht, dass es das neue Familiengesetz überhaupt gibt."

Bücher aus der Hand gerissen

Die temperamentvolle 46-Jährige mit dem modernen Kurzhaarschnitt betreibt eine Buchhandlung im Uni-Viertel von Marrakesch. Sie wurde auf den Analphabetismus aufmerksam, als sie ihr Geschäft 1994 eröffnete. Damals seien Jugendliche aus dem Atlasgebirge, das Marrakesch umgibt, in ihren Laden gekommen und hätten die Bücher ehrfürchtig bestaunt, aber nichts gekauft, weil sie nicht lesen konnten und kein Geld hatten. So kam Jamila auf die Idee, ihr Auto mit Büchern voll zu packen und in die umliegenden Bergdörfer zu fahren. "Die Frauen haben mir die Bücher aus der Hand gerissen. Viele wollten, dass ich ihnen vorlese."

Nach dieser Erfahrung beschloss Jamila, ihre Bücherfahrt zu wiederholen und auf andere Regionen auszudehnen. Inzwischen ist sie in Marrakesch und darüber hinaus bekannt für ihre "Bücherkarawane", organisiert Alphabetisierungskurse, Schreibwettbewerbe und Lesungen mit Diskussionsrunden. "In Marokko ist es Tradition, dass Jugendliche zu Hause den Mund halten, besonders die Mädchen. Das möchte ich ändern."

(csi)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort