Analyse Mit Belgien ist kein Staat zu machen

Brüssel · Belgien versucht, eine Woche nach den Anschlägen wieder zur Normalität zurückzufinden. Doch was heißt schon normal in einem Land, das seit seiner Gründung an seiner Organisation zu zerbrechen droht?

 Der Grote Markt in der belgischen Hauptstadt.

Der Grote Markt in der belgischen Hauptstadt.

Foto: Thinkstock/Horia Bogdan

Passiert der Autofahrer im Dreiländereck bei Aachen die Grenzen, wird schnell klar, in welchem der Länder er sich befindet. In Deutschland haben wir akkurat gepflegte Straßenränder und saubere weiße Markierungen auf dem Asphalt. In den Niederlanden wird die Orientierung im Straßenraum noch wichtiger genommen, so dass man sich angesichts der peniblen Dekorationen fast vorkommt, als sei man in einer Modellbaulandschaft unterwegs. Auf Belgiens kleinen Landstraßen dagegen Tristesse: Wildwuchs, Unebenheiten, Unübersichtlichkeit, Nachlässigkeit.

Bei den Straßen fängt es an

Die kleine Nation mit drei Sprachen, vier Grenzen und einer touristisch attraktiven Nordseeküste schafft es nicht, ihre Straßen so gut wie die Nachbarn in Schuss zu halten. Andererseits nimmt Belgien sich die Freiheit und illuminiert des Nachts seine Autobahnen - so dass das Land, aus dem All betrachtet, heller leuchtet als Paris und London zusammen. Ob man wegen derart erhöhten Energiebedarfs in Belgien die maroden Kernkraftwerke nicht abschalten mag?

Die Situation des Verkehrs offenbart freilich nur einen kleinen Widerspruch in einem von großen Widersprüchen und Rissen geprägten Land, das eine Woche nach den terroristischen Anschlägen in Brüssel versucht, zur Normalität zurückzufinden. Auf Spurensuche nach den offenbar idealen Rahmenbedingungen für das Nest der IS-Terroristen in Brüssels Stadtteil Molenbeek untersucht man die Struktur eines ganzen Staates, der 1830 gegründet wurde und in der Rechtsform einer konstitutionellen Monarchie mit König Albert II. als Staatsoberhaupt agiert. Seit 2014 ist Charles Michel Premierminister, der der liberalen französischsprachigen Partei Mouvement Reformateur (MR) angehört.

Sprachstreit bestimmt das Land

Der Sprachstreit etwa beschäftigt die Belgier stärker, als man glaubt. Es gibt nicht wenige Stimmen im In- und Ausland, die deshalb eine baldige Teilung des Landes prognostizieren. Die flämischen Eliten, vor allem in der Wirtschaft, sind offenbar nicht mehr willens, die Wallonen weiter auszuhalten und dafür noch den kulturellen Hochmut der Frankophonen zu erdulden. Obwohl 1962 Sprachgrenzen im kleinen Königreich festgelegt wurden, nach denen die niederländischsprachigen Flamen im Norden und die französischsprachigen Wallonen im Süden gleichberechtigt ihre Sprache ausleben können. Dazu existiert auch noch, etwas im Abseits, die autonome deutschsprachige Gemeinschaft rund um Eupen.

In Brüssel, der flämischen Hauptstadt mit französischer Sprachmehrheit, leben tausende Politiker und beinahe noch einmal so viele Dolmetscher. Der litauische Finanzpolitiker ist hier im Gespräch mit dem griechischen Journalisten, dem polnischen Beamten, dem Luxemburger Grünen, dem britischen Lobbyisten, dem maltesischen Sozialdemokraten oder dem französischen Diplomaten. Tagtäglich geschieht ein Sprachenwunder, dass einstimmige Botschaften nach Europe versendet werden.

Keine Frauenquote

Jeder Belgier bekennt sich zu seiner Sprache, die meisten sprechen auch die der anderen oder verstehen sie. Regierung und Königshaus müssen zweisprachig kommunizieren. Als Ausländer kann man leicht anecken, wenn man "merci" statt "dank u wel" sagt und sich dann wundert, dass man nicht gut bedient wird. Und der Sprachstreit treibt mitunter seltsame Blüten. So wies vor drei Jahren die Bürgermeisterin der Stadt Menen in Westflandern ihre Beamten an, nur noch in Zeichensprache zu antworten, falls ein Bürger sie auf Französisch ansprechen sollte. Der Premierminister sollte sprachlich neutral sein, das heißt, es kann sowohl ein Flame als auch ein Wallone gewählt werden. Die 15 Minister im Kabinett müssen jeweils zur Hälfte einer der beiden Sprachgemeinschaften angehören. Frauen sind vorgesehen; ihre Beteiligung regelt keine Quote.

Ein überlebtes, überholtes, uneffektives belgisches Staatswesen diagnostizieren internationale Staatsrechtler mit Blick auf den Wohlstandstransfer von Flandern zur ärmeren Wallonie. Kein Wunder, dass die begabteren Politiker der jüngeren Generation sich eher für eine Karriere auf europäischer oder regionaler Ebene entscheiden als in der Bundesregierung mitzuwirken.

Eine Hand weiß nicht...

Selbst in der Hauptstadt weiß offenbar die eine Hand nicht, was die andere tut. In der eine Million Einwohner zählenden Metropole gibt es 19 Teilgemeinden mit eigenem Bürgermeister. Kritiker sprechen angesichts dieser Vielfalt gern vom parteipolitischen Versorgungsapparat. Dass Koordination nicht oberste Priorität hat, verdeutlicht ein Beispiel, das von einem frustrierten Regierungsbeamten kolportiert wird. Demnach soll ein Brüsseler Polizeibeamter eine ihm unliebsame gewalttätige Demonstration von seinem Bezirk einfach in den Nachbarbezirk umgeleitet haben, damit die Kollegen den Ärger ausbaden mussten. Dass es ähnlich unkoordiniert auch mit Informationen gelaufen ist, die Nachbarländer nach jüngsten Berichten über Terroristen nach Belgien weitergegeben haben, kann man sich vorstellen.

In diesen Tagen fragt man sich, wie die Belgier mit den Anschlägen und der Bedrohung in Zukunft umgehen wollen. Das multikulturelle Miteinander, das Brüssel bereicherte, birgt auf einmal Angstpotenzial. Doch die Bürger lassen sich nicht die Freude am Leben verderben, nicht nachhaltig einschüchtern. Das "Savoir-vivre" - wissen, wie man lebt - wird beherzigt. Die Menschen strömen wie zuvor in Cafés und Kneipen, auf Märkte, ans Meer und zu Konzerten. Die Freude am Leben, so haben es die Pariser vorgemacht, ist die stärkste Waffe im Kampf gegen jene, die Angst verbreiten wollen.

RP-Redakteurin Annette Bosetti hat während ihres Studiums in den 70er Jahren in Belgien gelebt.

(RP)
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