Nachruf "Nelson Mandela liebte alle Südafrikaner"

Pretoria · Unter Kindern fühlte er sich stets besonders wohl. Wie wohl, zeigten die Pressekonferenzen, die Nelson Mandela, damals noch als Präsident von Südafrika, in seinen Amtsjahren oft auf den Stufen vor seinem Kapstädter Amtssitz abhielt, gleich neben einem stark frequentierten Fußweg.

Nelson Mandela: Freiheitskämpfer und Staatsmann
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Für gewöhnlich endete das offizielle Prozedere mit dem jeweiligen Staatsgast immer dann, wenn Mandela am Zaun eine Gruppe von Schülern entdeckte und schnurstracks zum Händeschütteln hinüberlief. Mit Vorliebe ließ er die begeisterten Schüler bei solchen Anlässen wissen, wie sehr er sich freue, sie treffen zu dürfen.

Das Leben des Nelson Mandela
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Vermutlich speist sich Mandelas tiefe Liebe zu Kindern aus seinen einsamen Jahren auf der Sträflingsinsel Robben Island, wo ihm lange Zeit alle Kontaktbesuche verwehrt waren. Christo Brand, der damals als Wächter auf der Insel arbeitete, erzählte später, wie er Mandela nur einmal weinen sah — aus Verzweiflung darüber, dass er seinen von Ehefrau Winnie mitgebrachten kleinen Enkel nicht berühren durfte.

Mit einem Trick gelang es Brand schließlich doch, dass Mandela das Baby zumindest kurz in den Arm nehmen konnte. Kein Wunder, dass die Journalistin Charlene Smith, die eines von Dutzenden Büchern über Mandela schrieb, zur Erklärung der tiefen Zuneigung seines Landes für Mandela diesen Vergleich bemüht: "Südafrika war eine Nation misshandelter Kinder" schreibt sie. "Er kam aus dem Nichts — und liebte uns alle."

Der Tod des großen Versöhners und Nationalhelden erschüttert deshalb auch das ganze Land. Um den Mann, der 27 Jahre seines Lebens im Gefängnis saß und dennoch keinen Gedanken an Rache verschwendete, trauern alle Südafrikaner, unabhängig von ihrer Hautfarbe.

"Wer Hass verspürt, der kann nie frei sein"

"Wer Hass verspürt, der kann nie frei sein", sagte Mandela kurz nach der Freilassung im Februar 1990 — und formulierte damit sein Lebensmotto. Was nach dem 11. Februar geschah, als Mandela Hand in Hand mit seiner damaligen Ehefrau Winnie durch das Gefängnistor schritt, ist längst Geschichte:

Der einst prominenteste Gefangene der Welt führte seinen Afrikanischen Nationalkongress (ANC) in den ersten freien Wahlen des Landes im April 1994 zu einem überwältigenden Wahlsieg und wurde erster schwarzer Präsident des früheren Apartheidstaates. Sein stetes Bemühen um eine Aussöhnung mit den Weißen und sein unverbrüchliches Festhalten an einer Verhandlungslösung gelten heute als die größte Leistung des Mannes, der mit 75 Jahren erst spät triumphierte.

Weltweit schlug ihm dafür höchste Bewunderung entgegen. Aber noch etwas zeichnet Mandela besonders aus: Anders als viele andere afrikanische Gründerväter trat er nach nur einer Amtszeit 1999 zurück — und setzte damit ein Beispiel, das in Afrika heute noch immer zu den großen Ausnahmen zählt.

Schnell mit der Realität konfrontiert

Allerdings wurde Mandela nach seiner Freilassung auch schnell mit der Realität konfrontiert: Hatten nicht wenige in ihm einen politischen Messias gesehen, so zeigte sich in den darauffolgenden Jahren trotz einiger spektakulärer Erfolge, dass selbst er die Probleme des zwischen den Rassen zerrissenen Landes nicht durch Handauflegen heilen konnte. Anders als in den vielen Sonntagsreden haben sich die Menschen unterschiedlicher Hautfarbe am Kap seit dem Ende der Apartheid nicht verbrüdert. Statt Miteinander leben Schwarz wie Weiß noch immer eher nebeneinander, jetzt allerdings in Frieden, was weit mehr ist, als man noch vor einem Vierteljahrhundert erwarten durfte. Mandela selbst hat immer wieder davor gewarnt, ihn zum Helden zu stilisieren.

Viele taten es dennoch, weil sie seine Komplexität nicht verstehen wollten. Er selbst hat seine Fehler oft anerkannt, etwa das Versäumnis, in seiner Amtszeit mit mehr Nachdruck gegen die Ausbreitung der Aids-Epidemie am Kap vorzugehen.

Bei so viel Einsicht verzieh die Welt es ihm auch sofort, wenn er die iranische Revolution als Vorbild für die Menschheit pries und fragwürdige Potentaten wie Fidel Castro, Jassir Arafat oder Muammar al Gaddafi traf. Dass ihm dies niemand vorwarf, liegt vor allem daran, dass Mandela alles andere als ein normaler Politiker war: Er war der Vater und das Symbol der südafrikanischen Nation, aber noch viel mehr. Er war einer, den sogar David Beckham und Boris Becker um ein Autogramm baten. Eine Art weltlicher Papst.

Was aber ist es neben seinem enormen Charisma, das Mandela bei Jung und Alt, Schwarz und Weiß, im Ausland wie daheim zu einem solchen Ausnahmepolitiker machte? Seine Vita gibt nur wenig Aufschluss: Als Anwalt fiel er nicht weiter auf, als Chef der Befreiungsarmee des ANC tendierte seine Wirkung gegen null. Als Redner wirkte er mit seiner harten Stimme eher hölzern und belehrend. Um seine Popularität zu ergründen, muss man weit zurückgehen.

Königliche Herkunft aus einer Häuptlingsfamilie

Vermutlich sind es gerade die unmodernen Tugenden der für Mandela so prägenden viktorianischen Epoche und seine königliche Herkunft aus einer Häuptlingsfamilie, die ihm die Bewunderung der Welt eingetragen haben: der Großmut, nach mehr als 10.000 Tagen Haft nicht auf Rache zu sinnen. Oder seine Bescheidenheit und Zurückhaltung bei der Ausübung von Macht. Und sein moralisch stets einwandfreies Handeln, das ihm besonders wichtig war, weil der Zweck für ihn eben nicht die Mittel heiligte.

Natürlich auch sein untrügliches Gespür für die große Geste, etwa 1995, als er ganz Südafrika ausgerechnet hinter dem bei den Schwarzen verhassten, ausschließlich von Weißen gebildeten Rugby-Team der "Springboks" versammelte. Als Südafrika im Finale den hohen Favoriten aus Neuseeland schlug, lagen sich Schwarz und Weiß landesweit freudetrunken in den Armen. Privat liefen die Dinge für Mandela, den Vater von sechs Kindern, weit weniger gut: Die Ehe mit Winnie zerbrach. Seine Frau war in den langen Jahren des Kampfes herrisch geworden, hatte sich mit brutalen Bodyguards umgeben und junge Liebhaber genommen.

Für die Entführung und spätere Ermordung eines jungen Aktivisten durch ihre Leibwächter musste sie vor Gericht. Obwohl Mandela sie (zu) lange unterstützte, wurden beide 1996 geschieden. "Es ist eine der dunkelsten Stunden in meinem Leben", schrieb er in seiner Autobiografie. Nach den langen Jahrzehnten in der Politik war Mandela in den letzten Jahren doch noch etwas Zeit für seine Familie und all die Kinder vergönnt, die er in seinem Kampf für mehr Gerechtigkeit so lange entbehren musste. "Ich möchte in mein Dorf zurückkehren und über die Hügel meiner Kindheit wandern, dorthin, wo einst alles begann", schreibt er in seiner ausgesprochen lesenswerten Autobiografie "Der lange Weg zur Freiheit".

Kleine Welt am östlichen Kap

Mit der Rückkehr in sein Heimatdorf, in seine kleine Welt am östlichen Kap, wo er bis vor Kurzem lebte, ist er dem Beispiel vieler Afrikaner gefolgt, die sich für ihre letzten Jahre in die Heimat zurückziehen. Man mag streiten über das, was bleibt, vor allem jetzt, wo Mandelas Nachfolger sein Erbe in erbitterten Machtkämpfen schneller als erwartet verspielen.

Aber etwas Großes wird Bestand haben von der Ära des Nelson Mandela — etwas, das für viele inzwischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist: Südafrikas Menschen leben heute in einem freien Land. "Seine Ideale und sein Wunsch nach Freiheit haben am Ende gesiegt", resümiert Colin Eglin (88), ein großer südafrikanischer Liberaler. "Wir können uns unendlich glücklich schätzen, am Kap einen solch reifen Revolutionär gehabt zu haben."

(rl)
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