Türkei Menschenrechtler Steudtner kommt gegen Kaution frei

Istanbul · Mehr als drei Monate saß der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner in der Türkei in Untersuchungshaft. Nun kommen er und mehrere andere Mitangeklagte überraschend gegen Kaution frei.

Nach seiner Freilassung in der Türkei wird der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner schon am Donnerstag wieder in Deutschland erwartet. Sein Anwalt kündigte nach der Gerichtsentscheidung am Mittwochabend an, Steudtner und dessen schwedischer Kollege Ali Gharavi würden mit "dem nächstmöglichen Flug" ausreisen. Unklar war zunächst, wann genau sich Steudtner auf den Rückflug Richtung Deutschland machen wollte. In seinem Heimatort Berlin soll das erste Flugzeug aus Istanbul am Donnerstag um 9.35 Uhr Ortszeit am Flughafen Berlin-Tegel landen.

Nach der mehr als zwölf Stunden dauernden Verhandlung im 14. Schwurgericht in Istanbul folgte der Richter mit seiner Entscheidung weitgehend der Forderung des Staatsanwalts. Dieser hatte überraschend die Freilassung zumindest der meisten Angeklagten gefordert, darunter auch die der beiden Ausländer. Nun kommen alle frei, einige unter Auflagen. Nur der Vorsitzende von Amnesty International in der Türkei, Taner Kilic bleibt wegen eines anderes Verfahrens weiter in U-Haft, das an diesem Donnerstag in Izmir beginnen soll.

Türkei: Prozess gegen Peter Steudtner hat begonnen
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Prozess gegen Peter Steudtner in der Türkei hat begonnen

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Die Angeklagten waren im Juli bei einer Polizeirazzia nahe Istanbul festgenommen worden, während sie an einem Workshop über Sicherheit im Netz teilnahmen. Ihnen wurde vorgeworfen, kurdische und linksgerichtete Rebellen unterstützt und Kontakte zur Bewegung des Geistlichen Fethullah Gülen gepflegt zu haben.

Die Angeklagten werden nur bis zu einem Urteil auf freien Fuß gesetzt, das Verfahren in Istanbul geht im November weiter. Für Steudtner und Gharavi dürfte das aber keine Auswirkungen mehr haben. Sie werden so bald wie möglich in die Heimat fliegen.

Derselbe Staatsanwalt, der nun ihre Freilassung vorantrieb, klagt sie und die türkischen Beschuldigten der "Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation" und der Unterstützung solcher Gruppen an. Darauf stehen bis zu 15 Jahre Haft.

Steudtners Beruf ist das Training von Menschenrechtlern, die der 45-Jährige in digitalen Verschlüsselungstechniken und bei der Stressbewältigung berät. Nach 112 Tagen in U-Haft wirkte er erstaunlich gefasst, während er die Anklageschrift geduldig Stück für Stück auseinandernahm. Steudtner, Gharavi, Amnesty-Chef Kilic und Amnesty-Landesdirektorin Idil Eser gehören zu den elf Menschenrechtlern, die angeklagt wurden.

Der Prozess wurde in Deutschland auch als Testfall für den Rechtsstaat in der Türkei gewertet - und für die Beziehungen zu Ankara. Hintergrund der Anklage ist ein Seminar auf der Insel Büyükada vor der Küste Istanbuls, zu dem Steudtner und Gharavi als Referenten eingeladen waren und das die Polizei am 5. Juli stürmte.

Steudtner berichtete in seiner 40-minütigen Verteidigung von der Razzia. Die Polizisten hätten "Wo ist Peter?" gerufen, sagte er. "Ich weiß nicht, warum." Noch in derselben Nacht sei er einem "informellen und sehr bedrohlichen" Verhör durch drei Polizisten ausgesetzt gewesen, von denen einer fließend Deutsch gesprochen habe. Dabei sei er beschuldigt worden, verschiedenen Terrorgruppen anzugehören.

In der Anklageschrift sind mehrere Terrorgruppen namentlich erwähnt, es findet sich aber keinerlei Beleg dafür, dass Steudtner oder Gharavi Verbindungen zu ihnen hätten. Steudtner sagte: "Als ich die Namen der Terrororganisationen gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass ich nur zwei von ihnen kannte, bevor ich in die Türkei gekommen bin." Zur Türkei habe er kaum Bezug, in seiner Arbeit konzentriere er sich auf Afrika. Eine Arbeit, die im Übrigen stets ausgerichtet gewesen sei auf "Menschenrechte, Gewaltfreiheit und Friedensbildung".

Steudtner legte dar, warum Verschlüsselung von Daten nicht automatisch bedeutet, dass man der Polizei Informationen verheimlichen will. Ein Übersetzer hat beim Staatsanwalt ausgesagt, beim Seminar sei über die App Bylock gesprochen worden - eine Verschlüsselungs-App, die die Gülen-Bewegung verwendet hat, die die Regierung für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht. Steudtner sagt, das erste Mal von Bylock gehört habe er bei dem Seminar, und zwar von den Übersetzern.

Steudtner betonte: "Ich habe nie in meinem Leben irgendeine militante oder terroristische Organisation unterstützt." Zum Schluss seiner Verteidigung sagte er: "Ich plädiere in allen Anklagepunkten auf nicht schuldig und bitte um meine sofortige und bedingungslose Freilassung." Danach bedankt er sich auf Türkisch. Als der Richter ihn auf ein Gesetz hinweist, das Strafminderung im Fall von Reue vorsieht, erwidert Steudtner: "Ich habe nichts zu bereuen."

Die Anklageschrift gegen die Menschenrechtler hatte international Empörung ausgelöst, Amnesty nennt sie "absurd". Nachvollziehbare Belege für eine Unterstützung von Terrororganisationen oder gar eine Mitgliedschaft in einer solchen finden sich darin in keinem Fall. Die Anklage argumentiert, dass es den Teilnehmern des Workshops darum gegangen sei, "gesellschaftliches Chaos" zu provozieren - was schließlich auch den Interessen von Terrorgruppen diene.

Die weiteren Vorwürfe gegen die einzelnen Angeklagten wirken zumindest fragwürdig. Manche von ihnen werden beschuldigt, lediglich mit Menschen telefoniert zu haben, die Bylock auf ihren Handys gehabt haben sollen - als ob der Anrufer wissen könnte, welche Software auf dem Smartphone des Gesprächspartners installiert ist. Der Kontakt zu angeblichen Terrorverdächtigen kann in der Türkei inzwischen ausreichen, um ins Fadenkreuz der Justiz zu geraten.

Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu, der als Prozessbeobachter nach Istanbul gereist war, sagte: "Die Anklageschrift ist wie eine Ansammlung von Verschwörungstheorien. In einem Rechtsstaat würde kein Richter das akzeptieren." Mutlu machte auch deutlich, wie viel politische Bedeutung der Prozess aus deutscher Sicht hat.

Außenminister Sigmar Gabriel begrüßte die Aufhebung der Untersuchungshaft für Steudtner. Dies sei aber lediglich ein erster Erfolg. Weitere Deutsche befänden sich aus "nicht nachvollziehbaren Gründen" in türkischer Haft.

Mit Blick auf das Verfahren hatte John Dalhuisen, Europadirektor bei Amnesty International, erklärt, es handele sich um eine Bewährungsprobe für das türkische Justizsystem. Es werde sich zeigen, "ob ein Eintreten für Menschenrechte jetzt in der Türkei ein Verbrechen ist", sagte er.

Ein Forscher für Amnesty International in der Türkei, Andrew Gardner, sagte der Nachrichtenagentur AP, Menschenrechtsgruppen hätten bereits eine gewisse Weile nur noch unter Schwierigkeiten in der Türkei arbeiten können. Doch die Festnahmen im Sommer seien eine Eskalation der Unterdrückung gewesen. Es gebe nicht den kleinsten Beweis für die Vorwürfe, denen die Beschuldigten ausgesetzt gewesen seien, so Gardner.

(sbl)
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