Pulverfass Korea Geflohen aus dem Norden, schweres Leben im Süden

Seoul · Sie sind der Diktatur von Kim Jong Un entkommen und haben oft Schreckliches erlebt. Aber am Leben in Südkorea scheitern viele.

Nordkoreanische Arbeiter an der Grenze zu Russland. Jedes Jahr gelingt rund 1000 Nordkoreanern die Flucht aus der Kim-Diktatur. Es wird vermutet, dass weit mehr beim Versuch scheitern.

Nordkoreanische Arbeiter an der Grenze zu Russland. Jedes Jahr gelingt rund 1000 Nordkoreanern die Flucht aus der Kim-Diktatur. Es wird vermutet, dass weit mehr beim Versuch scheitern.

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Sie sind der Diktatur des nordkoreanischen Herrschers Kim Jong Un entkommen und haben oft Schreckliches erlebt. Aber am Leben in Südkorea scheitern viele Flüchtlinge aus dem Norden.

Ein seltsames Gefühl überkam Kim Hyeuk, als er die Frauen in den roten Trainingsanzügen sah. Wie sie marschierten, klatschten und riefen von den Tribünen der Sportarenen: "Kämpfen, kämpfen!" Sollte sich Kim Hyeuk als gebürtiger Nordkoreaner vor ihnen in Acht nehmen? Vor jener plötzlich nahen Welt, die der 24-Jährige vor sieben Jahren mit so großen Opfern hinter sich gelassen hatte? Als er mit seiner Familie in einer Nacht heimlich den Tumen-Fluss im Norden Richtung China durchquere, kam seine Mutter ums Leben. Er und sein Bruder mussten weiterziehen, über den Landweg bis Vietnam, um von dort aus mit Hilfe der südkoreanischen Botschaft nach Seoul zu fliegen. Das schien der Preis der Freiheit zu sein.

Bei den Olympischen Spielen aber, die im Februar im 100 Kilometer östlich der südkoreanischen Hauptstadt gelegenen Pyeongchang stattfanden, war plötzlich eine Hundertschaft von Delegierten aus dem Norden angereist. Aber die Angst, die Kim Hyeuk damals fühlte, hielt nur Momente an, wurde bald überlagert von Freude. "Die Nordkoreaner hier zu sehen war doch irgendwie unglaublich", sagt er mit strahlenden Augen. Vor allem das Eishockeyteam der Frauen, gebildet aus Athletinnen aus Nord und Süd. "Bis vor kurzem hätte ich das nicht gedacht", sagt Kim Hyeuk, "aber vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, dass die zwei Koreas wieder zusammenfinden."

Wird jetzt vielleicht nicht alles, aber doch vieles wieder gut? Kim Hyeuk gehört zu denen, die das glauben wollen. Er ist euphorisch. Er wartet in einem Café im chinesisch geprägten Stadtteil Daerin, wo er gleich einen südkoreanischen Freund trifft. Dass das Thermometer draußen minus zehn Grad anzeigt, beeindruckt den sportlich gebauten Kim Hyeuk auch nicht. Ins Café ist er mit geöffneter Jacke spaziert, hat einen "Ice Americano" bestellt. Für Kim Hyeuk jedenfalls ging es bei den olympischen Spielen um so etwas wie Identität.

Als er 2011 in Südkorea ankam, musste er zuerst die Schule nachholen, weil er im Norden vormittags häufig mit Feldarbeit verbacht hatte. Jetzt ist er an der Universität, studiert Politik. Aber im südkoreanischen Kapitalismus begleitet ihn noch immer ein Gefühl des Mangels. "So geht es vielen von uns hier", sagt er und versucht das Gefühl zu erklären. Es sei nicht nur der Verlust von Familienmitgliedern, womit die meisten seit ihrer Flucht Erfahrung haben. "Wir sind einfach nicht gut genug", sagt Kim Hyeuk leise. "Wir rennen hinterher."

30.000 geflüchtete Nordkoreaner leben in Südkorea. Pro Jahr kommen rund 1000 von ihnen ins Land. Noch weit mehr dürften versuchen, den Norden zu verlassen, dabei aber entweder gefasst werden oder ums Leben kommen. Wer es in die Freiheit schafft, wird erst einmal mit einer rauen Wirklichkeit konfrontiert: Im Süden ist das Leben schnell und teuer, die Produkte, die aus den Schaufenstern funkeln, sind häufig unerschwinglich. Trotz der für sie reservierten Studienplätze und Stipendien liegt die Abbrecherquote unter Flüchtlingen über dem nationalen Durchschnitt. Auch die Selbstmordrate ist bei ihnen deutlich höher als unter gebürtigen Südkoreanern, obwohl die im internationalen Vergleich schon weit oben liegt. Ihr nordkoreanischer Akzent stigmatisiert die Flüchtlinge noch zusätzlich.

Dass sich durch den neu belebten innerkoreanischen Austausch etwas an der Lage zwischen den beiden Ländern ändert, glauben längst nicht alle. Lee Ae-ran ist sogar gegen die Annäherung. "Was sich hier gerade abspielt, bricht mir das Herz ", ruft die 54-Jährige, während sie an den Tischen vorbei zur Küche stöckelt.

Seit gut 20 Jahren lebt Lee Ae Ran in Seoul, führt eines von nur wenigen Restaurants mit authentisch nordkoreanischer Küche. Die Stammkunden, die hier die Reisschale "Pjöngjang-Bibimbap" verzehren oder an den "Wiedervereinigungskeksen" knabbern, zählen sich in der Regel zu jenen, die sich mit den Flüchtlingen aus dem Norden solidarisieren und dabei jedes Appeasement gegenüber der Regierung in Pjöngjang strikt ablehnen.

"Kim Jong Un verletzt jeden Tag alle möglichen Menschenrechte, und jetzt wird ihm der Hof gemacht? Was soll das?", fragt sich Lee Ae Ran. Im Norden wurde die adrett gekleidete Frau mit Halstuch und Dauerwelle zu einer strengen Anti-Kommunistin: "Wir können nicht mit einem Regime sprechen, das die Menschen verhungern lässt." Aber was dann tun? "Sanktionen. Anders geht es nicht."

An den Tischen des Lokals, die sich am späteren Nachmittag langsam füllen, sind solche Meinungen vermehrt zu hören. Die Frage nach dem Umgang mit Nordkorea ist hier, zumal dieser Tage, Gesprächsthema Nummer eins. Lee Ae Ran ist eines der Aushängeschilder der südkoreanischen Rechten und häufig auf Anti-Pjöngjang-Demos dabei.

Eine ihrer Kellnerinnen, ebenfalls ein Flüchtling aus dem Norden, sagt leise, kaum hörbar im Lärm des Lokals, dass sie den Auftritt der Nordkoreaner bei den Olympischen Spielen als abstoßende Show empfunden habe: "Mich schüchtert es ein, dass Nordkorea hier seine Propaganda verbreiten darf. Ich weiß nicht, warum der Präsident das zulässt." Die Kellnerin, eine ältere Dame mit Schürze um die Hüfte und Geschirr in ihren kräftigen Händen, wendet sich ab.

Olympia 2018: Nordkoreanische Cheerleader üben das Jubeln
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Nordkoreanische Cheerleader üben das Jubeln

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Es scheint zwar kaum plausibel, dass irgendein Olympia-Zuschauer politische Sympathien für ein Land entwickelt haben sollte, nur weil er ein paar elegante Choreographien beim Eistanz sieht oder gut geschnittene Uniformen. Auch die Befürchtungen, dass Südkorea allen Ernstes den anachronistischen Kommunismus des Nordens annehmen könnte, weil die Regierungen aus Seoul und Pjöngjang jetzt miteinander reden, sind sicher aus der Luft gegriffen. Aber weit verbreitet sind diese Meinungen dennoch. Man liest in Zeitungen davon, hört es in Gesprächen.

Kim Sung Chul, ein weiterer nordkoreanischer Flüchtling, kann sowohl die Sorgen wie die momentane Begeisterung während der Spiele verstehen. Aber der 32-Jährige will sich nicht mehr mitreißen lassen. "Was wir im Norden erlebt haben, war eben traumatisch", sagt er. Da könne so mancher schnell zu extremen Ansichten kommen. Kim Sung Chul kommt gerade von der Arbeit, seinen dünnen Körper in einen Daunenmantel verpackt, marschiert er zu Fuß durch Seolleung, ein Viertel im Süden der Stadt. Links und rechts ragen Hochhäuser, dazwischen breiten sich mehrspurige Straßen aus, auf denen Motorenlärm röhrt, wie es ihn in seinem Heimatland wohl höchstens in der Hauptstadt Pjöngjang gibt. Aber da war er nie, Kim Sung Chul kennt die Stadt bloß aus Bildern. Und mit eigenen Augen müsse er sie auch nicht mehr sehen, sagt er.

Nach seiner ersten Flucht kehrte er nach Nordkorea zurück, nachdem ihn in China das Heimweh überbekommen hatte. Zum Dank ging es ins Arbeitslager. Später gelang ihm noch einmal der Ausbruch aus der Kim-Diktatur. "Die Zeit hab' ich hinter mir. In der Hungersnot der 1990er Jahre ist mein Vater gestorben, und in dieser ungeheizten Zelle im Lager wäre ich auch fast draufgegangen. Ich will nicht mehr zu viel dran denken."

Seit zehn Jahren ist Kim Sung Chul in Seoul, hat hier ein Studium abgeschlossen, sich auch einen neuen Namen zugelegt. Er nennt sich heute Scott, das klingt internationaler. Neben dem Studium hat er sich mit Hilfe freiwilliger Lehrer ein nahezu akzentfreies Englisch antrainiert. Seit einigen Jahren arbeitet er für ein Handelsunternehmen in Seoul, erledigt die Korrespondenz mit Lieferanten.

Ob er bei Olympia die Koreaner aus dem Norden oder die aus dem Süden unterstützt habe? An einer Ampel wartend tippelt Scott wie ein Boxer auf der Stelle, um nicht kalt zu werden, überlegt. Schwer sei diese Frage. "Mein Herz schlägt für den Norden. Aber ich war eher für die Südkoreaner, weil die sich wenigstens sportlich qualifiziert haben." Die nord-südkoreanische Kombination der Eishockeymannschaft habe für ihn einen seltsamen Beigeschmack gehabt. "Athletinnen aus Südkorea sind aus der Truppe geflogen, damit es Platz für ein paar Nordkoreanerinnen gab, nur für eine politische Geste. Ich glaube nicht, dass so ein Deal bei allen im Land gut angekommen ist."

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Auch Scott, der Händler, träumt von der Wiedervereinigung, wie eigentlich fast alle Koreaner. Aber an Verständigung durch die Kraft des Sports, auf die der Student Kim Hyeuk hofft, glaubt er nicht, ebenso wenig an die Sanktionen, die die Restaurantbesitzerin Lee Ae Ran fordert. Scott will sich in einigen Wochen selbstständig machen und Handel mit Elektronikprodukten betreiben. "Vielleicht kann ich dann irgendwann nach Nordkorea."

(RP)
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