Türkischer Präsident Erdogan Der geschwächte Mann vom Bosporus

Ankara · Mehr als ein Jahrzehnt herrschte die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit absoluter Mehrheit in der Türkei. Doch den weiteren Ausbau seiner Macht wollte eine Mehrheit der Wähler nicht.

Wie zu einer Beerdigung versammelt sich die Führungsriege der türkischen Regierungspartei AKP am späten Sonntagabend auf dem Balkon des Partei-Hauptquartiers in Ankara, vor dem ihre ratlose Anhängerschaft wartet. Traurige Menschen in grauen Anzügen reihen sich auf der Empore aneinander, kraftlos winken die Parteioberen dem Fußvolk zu. Auf dem Balkon müht sich AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit einer Rede ab, in der er so tut, als habe seine Partei soeben einen neuen strahlenden Sieg errungen.

Dabei hat die islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl nach mehr als zwölf Jahren und einer unvergleichlichen Siegesserie unerwartet die Regierungsmehrheit verloren. Die Menge der AKP-Aktivisten vor dem Gebäude jauchzt nur ein einziges Mal auf - als Davutoglu den Namen Recep Tayyip Erdogan erwähnt.

Doch Erdogan fehlt auf dem Balkon, und er ist auch sonst nirgendwo zu sehen. Der Präsident, der in den Wochen des Wahlkampfs allgegenwärtig war, ist abgetaucht. Von ihm, der sonst keinen Tag vergehen lässt, ohne die politischen Gegner als Lügner, Schwule, Atheisten, Landesverräter und Terroristenhelfer zu beharken, ist plötzlich kein Wort mehr zu hören. Erdogan ist verstummt, und in der AKP fühlen sich viele plötzlich sehr allein. 41 Prozent Stimmen für eine Partei, die seit mehr als einem Jahrzehnt regiert, sind eigentlich ein stolzes Ergebnis. Zur Niederlage wurde das Resultat durch die völlig überzogenen Ziele, die Erdogan der AKP gesetzt hatte.

Eine überwältigende Mehrheit von mindestens 330 Parlamentssitzen hatte Erdogan für die Regierungspartei gefordert, um damit Verfassungsänderungen zur Einführung eines Präsidialsystems durchzusetzen. Die "Neue Türkei" brauche einen starken Mann an der Spitze, lautete sein Argument, mit dem er im Wahlkampf für die AKP auftrat - obwohl die Verfassung dem Präsidenten parteipolitische Neutralität auferlegt. Der 61-jährige Erdogan kümmerte sich aber nicht darum, er glaubte sich einem großen Ziel sehr nahe. Dann kam der Wahltag. Die AKP stürzte ab und wurde im Parlament auf 258 Abgeordnete zurückgestutzt. Erdogans Traum zerplatzte. Bemerkenswerterweise erzielte die AKP unter den in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken, die als konservativ gelten, erneut eine deutliche Mehrheit von 53 Prozent.

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
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Das ist Recep Tayyip Erdogan

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Wie der Präsident reagierte, als er das Ausmaß des Debakels begriff, berichtete ein Informant auf Twitter. Unter dem Pseudonym Fuat Avni beschreibt er, wie der Präsident wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen geblieben sei. Sogar die vorgeschriebenen Gebetszeiten habe der fromme Muslim vergessen. In der Nacht begann die von Korruptionsskandalen umwitterte Regierung Fuat Avni zufolge mit der Vernichtung belastender Dokumente.

Gestern traute sich Erdogan immer noch nicht unter die Leute. In Ankara begann die schwierige Suche nach einer einigermaßen stabilen Regierungskoalition, in Istanbul stürzte die Börse ab, der Lira-Kurs rutschte in den Keller. Das Präsidialamt ließ in einer dürren schriftlichen Mitteilung erklären, der "Ratschluss der Nation" stehe über allem. Immerhin, sagen einige von Erdogans Gegnern: Der Präsident nimmt das Wahlergebnis an.

Stimmt das wirklich? Fügt sich der Kämpfer Erdogan in sein Schicksal? Manche glauben nicht daran. Der Präsident müsse sich nun entscheiden, ob er sich an die Spielregeln der Verfassung halten wolle oder nicht, sagt etwa der Meinungsforscher Tarhan Erdem. Wenn Erdogan sich weiter so aufführe wie bisher und alle Andersdenkenden ausgrenze, werde es unmöglich, zwischen den verschiedenen Parteien einen Kompromiss für eine Koalition zu finden.

Das wird ohnehin schwierig genug. Die Nationalistenpartei MHP, die als potenzieller Regierungspartner der AKP gehandelt wird, bereitet Presseberichten zufolge einen Gesetzentwurf vor, mit dem Erdogan gezwungen werden soll, aus seinem ebenso prunkvollen wie umstrittenen Palast in Ankara auszuziehen. Die Kurdenpartei HDP als Shootingstar der Wahl mit ihren immerhin 82 Abgeordneten will ohnehin nichts mit Erdogan zu tun haben. Einige Beobachter spekulieren über eine Minderheitsregierung von MHP und der säkularistischen CHP, die von der HDP im Parlament geduldet würde. Aber auch von Neuwahlen ist bereits die Rede, besonders in enttäuschten AKP-Kreisen.

Erdogan hatte die Wahl zu einer Volksabstimmung über seinen Plan für ein Präsidialsystem erklärt, doch das Ergebnis ist für ihn eine Katastrophe. Das Resultat seien 60 Prozent gegen Erdogan, schreibt der Journalist Cengiz Candar: "Eine schwere Niederlage für ihn. Eine große Erleichterung für die Türkei." So macht sich die Hoffnung auf eine neue Zeit breit, in der Regierungsgegner nicht mehr jeden Tag beschimpft oder mit Strafanzeigen überzogen werden. Die Aktien der Firma, die Wasserwerfer für die türkische Polizei herstellt, sackten ab, während die Werte regierungskritischer Medien an der Börse gegen den allgemeinen Trend nach oben kletterten.

Besonders schmerzlich für Erdogan ist die Tatsache, dass er, der Meister aller Klassen bei Wahlkampftaktik und Dampf-Rhetorik, die Wahl höchstpersönlich vergeigt hat. Ausgerechnet er, der strahlende Sieger aller Wahlen seit 2002, der sich viel auf seine Nähe zum einfachen Volk einbildet, hat die Türken völlig falsch eingeschätzt.

Aber so schnell gibt Erdogan nicht auf. Zuallererst stellt sich die Frage, ob der Präsident nun den nominellen AKP-Chef und Premier Davutoglu zum Sündenbock macht und durch einen neuen Gefolgsmann ersetzt. Der Historiker Ahmet Insel ist jedoch überzeugt, dass dies nur Rückzugsgefechte eines Politikers wären, der seine beste Zeit hinter sich hat: "Die Ära Erdogan ist vorbei."

(RP)
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