Türkei Erdogans langer Schatten über der Regierungsbildung

Istanbul · Die politische Situation in der Türkei scheint ziemlich verfahren: Eine Regierungspartei ohne eigene Mehrheit und drei Oppositionsparteien, die mit ihr nicht zusammenarbeiten wollen. Und welche Rolle will Präsident Erdogan zukünftig spielen.

Recep Tayyip Erdogan: Langer Schatten über der Regierungsbildung
Foto: afp, ADM/JH

Lange schien die politische Landschaft der Türkei zementiert und überragt vom großen Fels in der Brandung: Präsident Recep Tayyip Erdogan. Doch seit den Parlamentswahlen vor zwei Wochen ist alles anders. Der politische Zement scheint plötzlich reichlich sandig. Und selbst Experten trauen sich kein Urteil zu, wie es jetzt weiter geht.

"Weder ich noch sonst jemand kann eine Vorhersage machen, was passiert", sagt Ersin Kalaycioglu, Professor für türkische Politik an der Sabanci-Universität in Istanbul. Sein Kollege Sinan Ciddi vom Institut für türkische Studien an der Georgetown Universität in Washington pflichtet bei. Derzeit sei nichts auszuschließen, sagt der Experte: "Es gibt ebenso viele glaubwürdige Szenarien, wie es plausible politische Parteien gibt."

Vor der Wahl vom 7. Juni hatten Erdogan und seine Regierungspartei AKP alles auf eine Verfassungsreform gesetzt: Das parlamentarische System der Türkei sollte in eine Präsidialdemokratie umgebaut werden - dem derzeitigen Staatschef Erdogan auf den Leib geschneidert. Dann grätschten die Wähler dazwischen. Der seit mehr als einem Jahrzehnt alleinregierenden AKP, die eigentlich auf einen Ausbau ihrer Macht geschielt hatte, fehlen nun 18 Mandate zur eigenen Mehrheit.

Aus für die Verfassungsreform

Die von der gesamten Opposition abgelehnte Verfassungsreform ist damit passé. Und zum Regieren braucht die AKP mindestens einen Partner. Das Problem: Alle drei anderen im Parlament vertretenen Parteien lehnten eine Zusammenarbeit mit der AKP zunächst einmal ab - nicht zuletzt wegen der Machtambitionen des eigentlich zur Neutralität verpflichteten Präsidenten, der auch massiv im Wahlkampf mitgemischt hatte.

Ein einigermaßen plausibles Szenario ist eine Vereinbarung zwischen der moderat islamischen AKP und der radikal nationalistischen Partei MHP. Beide Parteien sind eher auf dem rechten Flügel angesiedelt.
Doch die MHP lehnt den vor zwei Jahren begonnenen Friedensprozess mit der kurdischen PKK ab. Eine Zusammenarbeit könnte der AKP deshalb bei kurdischen Wählern schaden.

Die Alternative ist eine Zusammenarbeit mit der säkularen Partei CHP. Ein solches Bündnis hätte eine stabile Mehrheit. Dafür müsste die AKP aber eine gute Portion Stolz herunterschlucken, denn bisher sah sie die CHP als Erzrivalin. Angesichts der tiefen politischen Kluft zwischen beiden Parteien, können sich Beobachter ein solches Tandem kaum vorstellen.

Erdogans Dominanz als Hemmschuh

Ein Hindernis dürfte zudem der bislang so mächtige Erdogan sein, der vor seiner Wahl zum Präsidenten im vergangenen Jahr die türkische Politik seit 2003 als Ministerpräsident geprägt hatte. "Ich glaube, jede Regierungsbildung, die funktionieren soll, wäre wegen Erdogans Dominanz schwierig", sagt die Kolumnistin Lale Kemal von der Zeitung "Zaman". Alle Oppositionsparteien sind sich einig, dass sich Erdogan künftig - gemäß seiner Rolle als Staatschef - aus der Tagespolitik heraushalten soll. Dem wortgewaltigen Präsidenten dürfte dies aber ganz und gar nicht genehm sein.

Als dritte Möglichkeit zur Regierungsbildung wird über eine Koalition der Oppositionsparteien spekuliert, die rechnerisch zusammen eine Mehrheit hätten. Zur nationalistischen MHP und der säkularen CHP müsste sich dann noch die linke HDP gesellen. Der Kolumnist Sükrü Kücüksahin von der Zeitung "Hürriyet" brachte das Szenario in Umlauf. Aber selbst er räumt ein, dass es ziemlich unwahrscheinlich ist.

Auch sein Kollege Ilnur Cevik von der regierungsnahen Zeitung "Sabah" verweist auf tief sitzende Rivalitäten und hält deshalb jede Koalitionsbildung für schwierig. Für ihn ist die Zusammenarbeit zwischen AKP und MHP aber immer noch das Wahrscheinlichste. AKP und die säkulare CHP - "das will die Basis nicht", glaubt der Journalist.

In dem politischen Streit schwingt auch durchaus eine persönliche Note mit, und zwar auch innerhalb der AKP. Mitgründer Abdullah Gül, vor Erdogan Präsident der Türkei, galt lange als Unterstützer des starken Manns der Partei. Aber die kürzlich erschienenen Memoiren eines früheren Mitarbeiters von Gül streichen dessen eigene Ambitionen heraus. In dem Buch wird Gül mit den Worten zitiert: "Ich kann die Türkei zurückführen zu der Zeit, als die Sterne noch funkelten."

Gül meldet Ambitionen an

Und dann ist da noch der politische Chaosfaktor. So könnten sich Abgeordnete aus den Oppositionsreihen vielleicht mit Posten in Ministerien ködern lassen. Andererseits halten es Beobachter auch für möglich, dass die AKP Koalitionsverhandlungen sabotieren könnte - in der Hoffnung auf Neuwahlen und die Rückkehr zu einer stabilen eigenen Mehrheit.

Einen ersten Hinweis, wohin die Reise politisch geht, dürfte die kommende Woche bieten. Dann werden die neu gewählten Abgeordneten vereidigt und ein Parlamentspräsident gewählt. Professor Kalaycioglu, der Erdogan kritisch gegenübersteht, hält es für möglich, dass die Opposition einen Nicht-AKP-Politiker an der Spitze des Parlaments durchsetzt. Das wäre für den Experten ein Signal, dass Erdogans Stern nach zwölf Jahren an der Macht sinkt.

"Wenn sie das nicht schaffen, dann, fürchte ich, werden wir es weiter mit der guten, alten, autoritären Politik zu tun haben", sagt der Istanbuler Wissenschaftler.

(ap)
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