Stichwahl von Gewalt überschattet Fast 240 Tote am Wahltag in Afghanistan

Kabul · Raketen, Sprengfallen und abgeschnittene Finger: Die Taliban versuchten alles, die Stichwahl in Afghanistan zu torpedieren. Doch Millionen Afghanen fügten den Extremisten eine schwere moralische Niederlage zu.

 Vor den Wahllokalen haben sich lange Schlangen gebildet.

Vor den Wahllokalen haben sich lange Schlangen gebildet.

Foto: dpa, os lb

Stolz streckten viele Afghanen bei der Stichwahl für das Präsidentenamt ihren Finger in die Höhe: Bei jedem Wähler wurde der rechte Zeigefinger am Samstag mit blauer Tinte markiert, um eine mehrfache Stimmabgabe zu verhindern. Einigen Afghanen wurde die Tinte allerdings zum Verhängnis: Elf von ihnen schnitten die Taliban nach Angaben des Innenministeriums die markierten Finger ab. Die Extremisten überzogen Afghanistan am Wahltag mit Gewalt. Trotzdem versetzten Millionen Wähler den Taliban eine - im übertragenen Sinn - schallende Ohrfeige, indem sie sich ihrem Terror nicht beugten.

Der Tag der Stichwahl zwischen den Kandidaten Abdullah Abdullah und Aschraf Ghani war der bislang blutigste Wahltag in Afghanistan seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001. Etwa 250 Menschen wurden getötet, die meisten davon Aufständische, aber auch viele Zivilisten starben. Unter den Toten sind Kinder und Frauen, Wahlhelfer und Wahlbeobachter. Die Taliban verübten Bombenanschläge und schossen Raketen ab. Die rund 400 000 eingesetzten Sicherheitskräfte - die ebenfalls viele Opfer zu verzeichnen hatten - schlugen hart zurück.

Trotz der Gewalt gelang es den Taliban nicht, den Wahlprozess zum Entgleisen zu bringen. In den großen Städten blieb es weitgehend friedlich. Und den Taliban-Drohungen, der Wahl fernzubleiben, widersetzte sich eine Mehrheit der Afghanen: Dass sich nach Angaben der Wahlkommission mehr als sieben Millionen der zwölf Millionen Wahlberechtigten ihr Wahlrecht nicht nehmen ließen, ist eine der bislang schwersten moralischen Niederlagen der Taliban.

Vor Wahllokalen in Kabul und anderen Städten bildeten sich am Samstag Schlangen. "Es ist unser Recht zu wählen", sagte der 35-jährige Koch Fateh Khan in der Hauptstadt. "Auch wenn die Taliban mir den Kopf abgeschnitten hätten, hätte ich meine Stimme abgegeben." Die Parlamentsabgeordnete Schukria Baraksai sagte bei ihrer Stimmabgabe:
"Ich fühle mich fantastisch, wunderbar. Ich habe darum gebetet, dass viele Menschen heute wählen gehen, und Gott hat meine Gebete erhört." In Hunderten Wahllokalen im Land gingen die Wahlzettel aus, die Wahlkommission musste Nachschub schicken.

Beim internationalen Einsatz in Afghanistan ist vieles schiefgelaufen, zumindest das Demokratieexperiment aber scheint nach der Stichwahl vom Samstag geglückt. Zwar hängt Afghanistan am Tropf der Staatengemeinschaft und ist weit entfernt von einem nach westlichen Maßstäben funktionierenden Staat. Trotzdem hinkt der in diesen Tagen oft gezogene Vergleich mit dem Irak.

Im Irak besetzten die US-Truppen ein entwickeltes Land, in Afghanistan bescherte der Einmarsch den Menschen dagegen ein Ende der Steinzeit. Den allermeisten Afghanen geht es heute wirtschaftlich besser als unter dem Taliban-Regime, das Land hat riesige Entwicklungssprünge hingelegt. Nur ein Beispiel: Gab es unter den Taliban nur ein paar Tausend Telefonverbindungen im Land, haben heute rund zwei von drei Afghanen ein Handy.

Selbst wenn viele Afghanen den ausländischen Truppen inzwischen kritisch gegenüberstehen und die Sicherheitslage weiterhin miserabel ist: Den Fortschritt und die neuen Freiheiten wollen sie sich von den rückständigen Taliban nicht wieder nehmen lassen. Auch deswegen gehen Millionen Afghanen zur Wahl - sogar wenn das große Härten und Gefahr für Leib und Leben mit sich bringt.

Issat Khan aus dem Dorf Sorkhi in der ostafghanischen Provinz Parwan gehört zu jenen, die ihr Leben riskierten. In seiner Gegend haben die Taliban das Sagen, der 58-Jährige fuhr unter einem Vorwand mit drei Freunden in die Distrikthauptstadt Siagerd, um dort unbemerkt wählen zu können. Nach dem Besuch im Wahllokal hätten er und seine Freunde verzweifelt versucht, die Tinte von ihren Fingern zu entfernen, sagt Khan. Die Polizei habe die Männer daraufhin wegen versuchtem Wahlbetrug festgenommen. "Wir mussten eine Stunde lang erklären, dass wir unsere Finger saubermachen, um unser Leben zu retten."

(dpa)
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