Analyse Fünf Vorurteile gegen den Freihandel

Berlin · Das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA löst große, teilweise diffuse Ängste aus. Vor allem die Kulturszene fürchtet unguten Wettbewerb aus den USA. Welche Ängste sind berechtigt, welche nicht?

Paul ist Student an der Filmuniversität in Potsdam-Babelsberg. Sigmar ist Bundeswirtschaftsminister. Auf seiner Sommerreise macht der Vizekanzler auch Station bei den angehenden Filmemachern. Sigmar fragt Paul, was er auf dem Herzen habe. Da bricht es aus dem 26-jährigen Filmstudenten heraus: "Wenn TTIP kommt, können wir hier einpacken, dann gibt's keine Filmförderung mehr, dann übernehmen die Amerikaner den europäischen Film." Plötzlich ist Sigmar nicht mehr so nett zu Paul: "Den Professor, der Ihnen diesen Unfug beigebracht hat, möchte ich mal kennenlernen!" Was Paul erzähle, stimme nicht. Paul habe die Pflicht, sich besser zu informieren. "Ich bin sonst netter", sagt Sigmar Gabriel zum Abschied.

Zurück bleibt ein etwas bedröppelter und verwirrter Student. Ist etwa all das Beunruhigende falsch, was er über das geplante transatlantische Freihandelsabkommen der EU mit den USA im Internet gelesen hat? Nichtregierungsorganisationen mobilisieren mit Hiobsbotschaften gegen das "Transatlantic Trade and Investment Partnership", kurz TTIP genannt. Wirtschaftsverbände warnen eindringlich vor dem Scheitern. "Objektive" Informationen sind nur schwer zu bekommen. Welche Vorurteile sind berechtigt, welche nicht?

Vorurteil Nr. 1: TTIP bedroht die europäische Kulturlandschaft.

Diese Befürchtung ist überzogen. Auf Druck Frankreichs wurde der audiovisuelle Bereich aus den Verhandlungen herausgenommen, deshalb hatte Sigmar Gabriel recht, als er Paul widersprach: Der europäische Film ist nicht in Gefahr. Sorgen machen sich aber auch andere Kulturschaffende, etwa Theaterleute, die ebenfalls stark von öffentlicher Hilfe abhängen. Auch über die Zukunft der Buchpreisbindung wird diskutiert. Man werde bei den Verhandlungen "die besondere Rolle der öffentlichen Daseinsvorsorge, der kulturellen Dienstleistungen" beachten, versichert das Wirtschaftsministerium auf seiner Internetseite. Für die EU verhandelt die Brüsseler Kommission, die Bundesregierung hat nur indirekt Einfluss. Der Vertragstext wird jedoch von den Parlamenten der 28 EU-Staaten ratifiziert werden müssen, auch vom Bundestag. Fazit: Die EU-Kommission wird gegen den Willen der Staaten keinen Vertrag schließen können, der Theater, Buchmärkte und andere Kultur gefährdet.

Vorurteil Nr. 2: TTIP bringt Genmais und Chlorhühnchen aus den USA auf unsere Tische.

Unwahrscheinlich, aber die Gespräche laufen noch. Die USA würden gern mehr genveränderte Lebensmittel in Europa verkaufen, ebenso wie das mit Chlor behandelte Geflügel. Die EU verbietet die Einfuhr dieser Lebensmittel. Auch die Europäer haben Interessen, sie würden gerne mehr Milchprodukte in den USA verkaufen, etwa Rohmilchkäse, der dort verboten ist. "Jeder, der behauptet, mit TTIP kämen die Chlorhühnchen aus den USA nach Europa, ist nicht aufrichtig. Die Verhandlungen laufen, es ist alles offen, nichts ist festgelegt", sagt Erdal Yalcin, Experte am Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. "Es gibt das Vorurteil, die EU sei beim Verbraucherschutz viel strenger als die USA. Das kann man so aber überhaupt nicht sagen", ergänzt Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die US-Lebensmittelkontrolle sei besser als unsere. Fazit: Genmais und Chlorhühnchen bleiben in der EU wohl verbannt. Und: Nicht alles, was aus den USA kommt, ist schlechter.

Vorurteil Nr. 3: Durch TTIP werden EU-Standards beim Umwelt- und Arbeitsschutz ausgehöhlt.

Auch das ist sehr unwahrscheinlich, doch auch hier gilt: Die Verhandlungen laufen noch, eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob und was TTIP an den bestehenden Umwelt- und Arbeitsschutzregeln ändert, ist daher noch unmöglich. Die EU wird jedoch mühsam erreichte Standards nicht einfach preisgeben. Der Streit über das Fracking, das Bohren nach Schiefergas-Vorräten tief in der Erde, zeigt jedoch die Brisanz dieses Themas. In den USA ist Fracking weitgehend erlaubt, in Deutschland soll es weitgehend verboten werden. Klar ist: TTIP kann unsere Gesetze nicht aushebeln.

Vorurteil Nr. 4: Große Konzerne könnten durch TTIP künftig Regierungen verklagen und hohen Schadenersatz zulasten der Steuerzahler verlangen, wenn die Konzerne ihre Profit-Interessen durch Verbote verletzt sehen.

Da ist etwas dran. Vergangene Woche wurde der Vertragstext des Freihandelsabkommens Ceta ("Comprehensive and Economic Trade Agreement") öffentlich, das die EU gerade mit Kanada ausgehandelt hat. Es gilt als Blaupause für TTIP. Ceta enthält auch ein sogenanntes Investitionsschutzabkommen. Dieses räumt Investoren das Recht ein, gegen ein Gastland vor einem internationalen Schiedsgericht zu klagen, wenn Gesetzesänderungen die Kalkulationsgrundlage einer Investition verhageln. Exportweltmeister Deutschland hat schon über 100 solcher Abkommen mit anderen Staaten geschlossen. Im Blick hatte Berlin dabei unsichere Staaten, in denen etwa Enteignungen drohen. Doch auch der deutsche Staat kennt die Kehrseite: Der schwedische Energiekonzern Vattenfall hat die Bundesregierung vor einem Schiedsgericht wegen des Atomausstiegs auf 3,7 Milliarden Euro Entschädigung verklagt.

Vorurteil Nr. 5: TTIP bringt gar nicht so viel mehr Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze, we behauptet wird.

Das Ifo-Institut hat errechnet, dass TTIP Deutschland ein zusätzliches Wachstum von mindestens einem und im besten Fall vier Prozent in zehn bis 15 Jahren bescheren könnte. Dadurch könnten langfristig 180 000 Jobs entstehen. Sicher ist, dass die exportorientierte deutsche Industrie von TTIP besonders profitieren würde, weil Handelsbarrieren etwa in der Automobilindustrie fallen würden. Es gibt aber auch Experten, die solche Prognosen anzweifeln, da auf die Firmen teure Dokumentationspflichten zukommen würden.

Fazit Paul muss sich wegen TTIP nicht um den europäischen Film sorgen und wird auch kein Chlorhühnchen essen müssen. Doch die Befürchtung, dass multinationale Konzerne zu viel Macht erhalten, ist nicht unberechtigt,

(mar)
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