Erdogan weist Kritik an Regierungsstil zurück "Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus"

Der Fortschrittsbericht der EU-Kommission wirft der türkischen Regierung schwere Versäumnisse vor. Die EU kritisiert die Verhaftung von Medienvertretern und die Verfolgung von Anhängern des Predigers Gülen. Erdogan ist die Kritik egal.

 Erdogan ist die Kritik aus dem Ausland "völlig egal".

Erdogan ist die Kritik aus dem Ausland "völlig egal".

Foto: ap, TS

Aus Protest gegen die Verhaftung ihrer führenden Politiker hat die prokurdische Linkspartei HDP einen weitgehenden Boykott des Parlaments in Ankara beschlossen. Die zweitgrößte Oppositionspartei in der türkischen Nationalversammlung teilte am Sonntag mit, sie ziehe sich zunächst aus allen Gesetzgebungsverfahren zurück. Die Partei warnte vor der Errichtung einer Diktatur durch den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP. Über das weitere Vorgehen werde sie mit ihren Anhängern und Mitgliedern in den nächsten Tagen beraten.

In einer Erklärung der HDP hieß es, die Partei reagiere damit auf "den umfassendsten und schwärzesten Angriff in der Geschichte unserer demokratischen Politik". Am Freitag war gegen die Doppelspitze aus Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, den Fraktionschef Idris Baluken sowie gegen sechs weitere Abgeordnete der HDP wegen angeblicher Unterstützung des Terrorismus Untersuchungshaft verhängt worden. Die Abgeordneten wurden in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt; der populäre Parteichef Demirtas kam nach Edirne in der Westtürkei in Einzelhaft.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat unterdessen die internationale Kritik an der Festnahme kurdischer Oppositionspolitiker zurückgewiesen. Dass ihn etwa die deutsche "Bild"-Zeitung einen "Diktator" genannt habe, sei ihm "völlig egal", sagte Erdogan am Sonntag in einer im Fernsehen übertragenen Rede. "Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus", fügte der Staatschef hinzu.

Die HDP will vielleicht ihre 59 Parlamentssitze niederlegen

Der deutsch-türkische HDP-Abgeordnete Ziya Pir aus der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir in Südostanatolien sagte am Sonntag, die HDP-Fraktion werde ihre parlamentarische Arbeit vorerst auf ein Minimum beschränken, später sei die Aufgabe der 59 Mandate im Parlament denkbar. "Wir werden nicht am Plenum und nicht an den Ausschüssen teilnehmen, aber unsere Fraktionssitzungen weiter abhalten." Damit wolle die Partei deutlich machen, dass das Parlament im aktuellen Ausnahmezustand ohnehin funktionslos sei. "Der Präsident erlässt Dekrete, die AKP-Mehrheit segnet sie ab." Pir war in der Nacht zum Freitag ebenfalls festgenommen worden; er wurde nach einem halben Tag wieder freigelassen, aber mit einem Ausreiseverbot belegt.

Präsident Erdogan wirft der HDP vor, der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament zu sein. Ziya Pir nennt diese und andere Vorwürfe "ebenso unlogisch, als wenn ich sagte, Erdogan sei der verlängerte Arm des Islamischen Staates". Nach seinen Angaben werde die HDP in den nächsten zwei bis drei Wochen mit ihren Wählern Versammlungen abhalten und darüber diskutieren, wie es weitergehen solle. "Dann entscheiden wir." Pir selbst plädiert für eine weitere Präsenz im Parlament, aber "auf Sparflamme". "Wir sollten das Parlament als Bühne nutzen, um die antidemokratischen Prozesse in der Türkei anzuprangern."

Am Freitagmorgen waren Pir und weitere festgenommene HDP-Abgeordnete, darunter der Parteivorsitzende Demirtas nur knapp einem schweren Autobombenanschlag auf das Polizeihauptquartier von Diyarbakir entgangen, weil sie kurz zuvor an einen anderen Ort gebracht wurden. Für den Angriff reklamierten sowohl die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) wie auch die PKK-nahe Terrorgruppe TAK die Verantwortung. Elf Menschen wurden getötet, darunter mindestens zwei Sicherheitsbeamte; mehr als 90 Menschen wurden verletzt.

"Wer auch immer das war, wir verurteilen diesen Anschlag auf das Schärfste", sagte Ziya Pir. Bei der Detonation war ein lokaler HDP-Politiker, der seit vier Wochen im Polizeigewahrsam war, getötet worden. "Wer den Anschlag verübt hat, muss gewusst haben, dass dort HDP-Mitarbeiter eingesperrt waren." Auch die HDP-Co-Vorsitzende Yüksekdag sei noch im Gebäude gewesen und von Trümmerteilen getroffen worden.

In der Türkei herrscht seit einem Putschversuch des Militärs im Juli 2016 der Ausnahmezustand. Die Behörden gehen im Rahmen sogenannter "Säuberungen" massiv gegen mutmaßliche Unterstützer des Putschversuchs vor. Bislang wurden mehr als 75.000 Menschen festgenommen, über 105.000 aus dem Staatsdienst suspendiert, 142 Journalisten sind inhaftiert. Auf scharfe Kritik im In- und Ausland traf zuletzt die Verhaftung neun führender Mitarbeiter der bedeutenden Oppositionszeitung Cumhuriyet wegen angeblicher Terrorunterstützung.

EU-Kommission prangert vorgehen der türkischen Regierung an

Das Vorgehen der türkischen Regierung gegen Opposition und Medien werde auch im neuen Fortschrittsbericht der Europäische Kommission zum EU-Beitritt der Türkei angeprangert, meldete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS). "Im Bereich der Meinungsfreiheit hat es im letzten Jahr einen schwerwiegenden Rückfall gegeben", zitiert das Blatt aus dem Entwurf, der wohl als Rückschrittsbericht bezeichnet werden kann und am Mittwoch veröffentlicht werden soll. Bemängelt werden darin laut FAS auch die Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive sowie die Verfolgung angeblicher Anhänger des Islampredigers Fethullah Gülen, den die türkische Regierung für den Putschversuch vom Juli verantwortlich macht — was dieser zurückweist.

In Istanbul löste die Polizei am Samstagabend eine Protestkundgebung von mehreren hundert HDP-Anhängern mit Wasserwerfern, Tränengas und Plastikgeschossen auf. Auch eine Kundgebung von rund tausend Demonstranten vor dem Cumhuriyet-Redaktionsgebäude wurde gewaltsam beendet. Unterdessen trafen sich das Exekutivkomitee und der Parteirat der größten, sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP am Wochenende, um die aktuellen Entwicklungen zu besprechen. Der CHP-Vizefraktionschef Sezgin Tanrikulu bezeichnete die jüngsten Verhaftungen als "Staatsstreich".

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