Analyse zur Lage in Nordafrika Krisenregion Maghreb

Düsseldorf · Eine sich verdüsternde ökonomische Lage und eine demografische Explosion: Daraus entsteht ein Cocktail, der den Migrationsdruck in den nordafrikanischen Staaten derzeit massiv erhöht.

Tunesien, Algerien, Marokko: Die Krisenregion Maghreb
Foto: Der neue Fischer Weltalmanach | Weber

Seit den Silvester-Übergriffen von Köln kennt die deutsche Öffentlichkeit einen neuen Begriff: "Nafris". So nennt die Polizei intern Nordafrikaner, meist junge Männer, die in der Regel illegal nach Europa gekommen sind und sich vor allem mit Diebstahl über Wasser halten. Sie stammen vor allem aus drei Ländern des Maghreb: Algerien, Marokko und Tunesien. Und nach Lage der Dinge dort wird der Zustrom illegaler Migranten nach Europa eher noch zunehmen.

Der Maghreb ist traditionell eine Region mit vielen Auswanderern, deren Ziel in der Vergangenheit vor allem die jeweiligen ehemaligen europäischen Kolonialmächte waren, Frankreich und Italien. Doch nun kommen zwei aktuelle Faktoren zusammen, die diese Migration nach Norden erheblich befeuern. Zum einen die günstige Gelegenheit: Seitdem sich in der europäischen Balkangrenze unter dem Ansturm Hunderttausender syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge eine Bresche geöffnet hat, versuchen auch viele Maghrebiner nach Europa zu gelangen. Das war noch nie so leicht, weil die Türkei den Visum-Zwang für die Maghreb-Staaten abgeschafft hat. Per Direktflug gelangen die Migranten nach Istanbul und setzen dann über Griechenland ihren Weg fort.

Zum anderen war der Druck im Kessel noch nie so hoch. Diese Menschen fliehen nicht vor Krieg oder Unterdrückung, obwohl wenigstens in Algerien und Marokko bis heute keine demokratischen Zustände herrschen. Sie fliehen vor einer ökonomisch zunehmend bedrückenden Lage und vor völliger Perspektivlosigkeit, mit der sich vor allem die junge Generation konfrontiert sieht.

Zu Beginn des Jahrtausends lag Algerien mit seinen knapp 40 Millionen Einwohnern auf der Liste der Länder mit der weltweit stärksten Auswanderung bereits auf Platz 15. Doch die Flucht aus dem Land könnte sich in naher Zukunft noch verstärken. Grund sind vor allem die düsteren wirtschaftlichen Aussichten. Algerien ist abhängig vom Öl, und der derzeitige Preissturz auf dem Weltmarkt bringt das Regime des siechen Präsidenten Abdelasis Bouteflika in größte Not. Mit den sprudelnden Einnahmen aus dem Ölgeschäft hatte die Regierung bisher den sozialen Frieden erkauft. Wichtige Grundnahrungsmittel, aber auch Benzin, Gas und Strom werden deswegen seit jeher massiv subventioniert. Zu Beginn des Jahres mussten die Preise aber bereits um 30 Prozent angehoben werden, weil der Ölpreisverfall allein 2015 ein Loch von 35 Milliarden Euro in die Staatskasse gerissen hatte.

Die Krise trifft ein Land mit hoher Arbeitslosigkeit, die offiziell bei etwas über zehn Prozent liegt, aber in Wirklichkeit vermutlich dreimal so hoch ist. Knapp die Hälfte der Algerier ist jünger als 20 Jahre; sie sind besonders betroffen vom Mangel an Perspektiven. Jedes Jahr verlässt rund eine Million Absolventen die algerischen Universitäten, aber die meisten finden auf dem völlig ausgetrockneten Arbeitsmarkt höchstens einen Job als Tagelöhner.

Auch im Königreich von Mohammed VI. tickt eine soziale Bombe. Zwar verzeichnet Marokko verglichen mit dem Nachbarn Algerien bis jetzt eine gewisse Prosperität. Aber auch hier gingen allein im vergangenen Quartal 165.000 Arbeitsplätze verloren. Und der demografische Druck ist womöglich noch höher, denn Marokko spürt derzeit die Auswirkungen eines Babybooms, den das Land Anfang bis Mitte der 90er Jahre erlebte. Rund drei Millionen der gut 33 Millionen Marokkaner sind zwischen 20 und 25 Jahre alt und drängen jetzt massiv auf den Arbeitsmarkt. Doch der ist außerstande, diese jungen Menschen aufzunehmen, denen allen Prognosen zufolge in den kommenden zwei bis drei Jahren noch Millionen weitere folgen werden. Selbst unter den Hochschulabsolventen ist schon jetzt jeder vierte Marokkaner arbeitslos. Tendenz steigend.

In einer solchen Situation war die Auswanderung immer schon ein Ventil für die marokkanische Gesellschaft. Von 1972 bis 2005, als ein Anwerbestopp verhängt wurde, hatte sich die Zahl der in den wichtigen europäischen Ländern lebenden Marokkaner auf rund 3,2 Millionen verneunfacht. Der Migrationsdruck, der zuletzt gesunken war, könnte sich in den kommenden Jahren wieder deutlich verstärken.

Das Land, von dem 2011 die Welle der arabischen Revolutionen ausging, ist das einzige, das den Übergang zur Demokratie geschafft hat. Die elf Millionen Tunesier müssen zwar seither keine Angst mehr vor der Geheimpolizei haben, aber ihre wirtschaftliche Lage hat sich weiter verschlechtert. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei gut 15 Prozent, aber in einigen Regionen vor allem im Süden des Landes erreicht sie mehr als 35 Prozent. Auch in Tunesien ist besonders für junge Menschen die Jobsuche oft aussichtslos. In der Nacht zu gestern schlug der Frust in Gewalt um, es kam zu Ausschreitungen in mehreren Regionen des Landes. Die Regierung verhängte eine nächtliche Ausgangssperre.

Verschärft wurde die Krise im vergangenen Jahr durch Terrorattacken auf Urlauber in Tunis und im Badeort Sousse. Danach brach das ohnehin schon schwache Tourismusgeschäft ein. Gerade junge Tunesier denken deswegen an Auswanderung. Und einige auch an Schlimmeres. Rund 6000 kämpfen für den Islamischen Staat in Syrien - so viele wie aus keinem anderen Land.

(RP)
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