Deutschlands Verständnis in der Ukraine-Krise Russland, Russland über alles

Düsseldorf · Die deutsche Debatte über die Ukraine ist stark fixiert auf Russland. Das hat historische Wurzeln - und schürt in den kleineren Staaten Mittelosteuropas die Angst vor einem neuen deutsch-russischen Arrangement auf ihre Kosten.

Wladimir Putin: Moskau feiert Sieg im Zweiten Weltkrieg
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Moskau feiert Sieg im Zweiten Weltkrieg

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Als der frühere brandenburgische Ministerpräsident und amtierende Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, Matthias Platzeck (SPD), jüngst dafür plädierte, die russische Annexion der Krim nachträglich zu legalisieren und bei der Gelegenheit gleich auch über eine Abtrennung der Ost-Ukraine nachzudenken, sprach er vielen Menschen hierzulande aus dem Herzen. Gebt Putin doch, was er will, dann ist endlich Ruhe - diese Stimmung gibt es. Sie manifestiert sich in Gesprächen, in Leserbriefen, vor allem aber im Internet.

Da wird munter schwadroniert über "berechtigte russische Interessen", einen "natürlichen Einflussbereich", es wird sachkundig über "Landkorridore" und "Pufferzonen" debattiert, die Russland benötige, und über den leichten Zugang zum Schwarzen Meer. Das böse Wort vom Lebensraum liegt in der Luft. Fast meint man die Hobby-Strategen zu sehen, wie sie sich über Landkarten beugen und mit beherzten Strichen die Grenzen in Mittelosteuropa neu ziehen wie weiland die Kolonialmächte in Afrika. Als müsse man sich mit dem russischen Bären nur gütlich einigen.

Muss ein Deal kommen?

 Das russische Staatswappen, der doppelköpfige Adler, am Tor des Winterpalastes in St. Petersburg.

Das russische Staatswappen, der doppelköpfige Adler, am Tor des Winterpalastes in St. Petersburg.

Foto: Sergey Kleptcha

Dass ein Deal mit Russland über den Kopf kleinerer Staaten hinweg erfolgen müsste und im Übrigen auch auf deren Kosten, das scheint in diesen Debatten nicht weiter zu stören. Selbst Deutschlands hochverehrtes Polit-Orakel Helmut Schmidt gab im Sommer zu Protokoll, eigentlich zähle für uns Deutsche ja nur Russland, und ob es eine ukrainische Nation überhaupt gebe, sei umstritten. Zwischen Berlin und Moskau ortete der Altkanzler lediglich "das zahlenmäßig kleine polnische Volk" - eine Formulierung, die aus polnischer Sicht unheilvoll klingen muss. Und erst recht für Esten, Litauer und Letten, Ukrainer, Weißrussen und Moldawier, die gar keine Erwähnung finden und sich also als Verfügungsmasse für deutsch-russische Sandkastenspiele fühlen dürfen.

Es wäre ja nicht das erste Mal. Drei Daten stehen für die deutsch-russische Neigung, Geschäfte zulasten Dritter zu schließen: 1762, 1815 und 1922. Jedes Mal ging die Einigung auf Kosten Polens.

Am Neujahrstag 1762 war Preußen praktisch erledigt. Seit fast sechs Jahren lag König Friedrich II. (unter anderem) mit Frankreich, Österreich und Russland im Krieg; der einzige wichtige Verbündete Großbritannien hatte seine Hilfszahlungen eingestellt, die Lage war finster. Da aber starb Zarin Elisabeth. "Morta la bestia", seufzte Friedrich erleichtert. Elisabeths Neffe Peter III., glühender Bewunderer des Hohenzollern, verbündete sich mit Preußen - ein epochaler Seitenwechsel, der als "Mirakel des Hauses Brandenburg" in die Geschichte einging. Mit dem Friedensschluss ein Jahr danach etablierte sich Preußen endgültig als eine der fünf Großmächte Europas. Und schon neun Jahre danach begann es, mit Russland und Österreich das innerlich blockierte und äußerlich geschwächte Polen aufzuteilen.

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Kein preußischer Aufstieg zur europäischen Macht also ohne Russland. Und auch kein Wiederaufstieg nach der napoleonischen Besetzung. Russland hatte 1812 Napoleon die entscheidende Niederlage beigebracht: Die "Grande Armée" des Kaisers war im russischen Winter zugrunde gegangen. Preußen, von Napoleon schon vernichtend geschlagen, schloss sich der antifranzösischen Koalition an - und stand am Ende als Siegermacht da. Vom Wiener Kongress als Großmacht wiederhergestellt, suchte das neu-alte Preußen 1815 in der "Heiligen Allianz" die Annäherung an Österreich und Russland.

Die Verständigung der Hohenzollern mit den Romanows trug durch den größten Teil des 19. Jahrhunderts. Bismarcks Einigungskriege waren außenpolitisch zwar revolutionär; ansonsten aber arbeiteten das hochkonservative Preußen und das reaktionäre Russland gedeihlich zusammen. Zweimal auch ungeniert gegen die Polen, als die versuchten, die Zarenherrschaft abzuschütteln. Nachhaltig entfremdet hat Preußen und Russen erst die Balkan-Krise der 1870er Jahre. 1914 erklärte Kaiser Wilhelm II. seinem Vetter Nikolaus II. den Krieg.

Dass aus dem Krieg beide Mächte als Verlierer hervorgingen, war der Kern für das letzte und folgenreichste Kapitel deutsch-russischer Machtgeschäfte. Das besiegte Deutschland und das bolschewistische Russland waren plötzlich Parias der Weltpolitik - und damit fast zwangsläufig Partner. Der Vertrag von Rapallo 1922, in dem Berlin und Moskau ihre Beziehungen normalisierten, schockierte die Westmächte. Und in den Weiten Russlands erprobte die Reichswehr fleißig die Waffen, die ihr durch den Versailler Vertrag eigentlich verboten waren: Panzer und Flugzeuge.

Gemeinsamer Gegner war wieder Polen, 1919 als Staat wiedererstanden und schon 1920 in einen Krieg mit der Roten Armee verwickelt. Der neue Nachbar im Osten, der in Versailles Westpreußen und Teile Oberschlesiens erhalten hatte, war der deutschen Rumpfarmee ohnehin ein Dorn im Auge. "Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands", schrieb 1922 Reichswehrchef Hans von Seeckt und drohte: "Es muss verschwinden und wird verschwinden durch eigene Schwäche und durch Russland, mit deutscher Hilfe." 17 Jahre später wird die Prophezeiung wahr: 1939 teilen Hitler und Stalin Osteuropa auf - das bisher letzte Mal, dass Deutsche und Russen sich auf Kosten Polens arrangieren.

Polnische Ängste vor der Neuauflage einer solchen Konstellation werden hierzulande gerne als Paranoia abgetan. Aber wer die deutsche Debatte über den Umgang mit der russischen Aggression gegen die Ukraine verfolgt, mag begreifen, warum polnische Intellektuelle unlängst in einem Manifest die "vielleicht unbewusste, unglückliche deutsche Tradition" beklagten, "die besagt, dass man im Osten nur mit einem Partner spricht: Russland".

(RP)
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