Krise in der Ukraine Weiter Rätsel um Scharfschützen auf dem Maidan

Kiew · Altes Regime, die Opposition oder doch Russland: Noch ist nicht klar, wer hinter den tödlichen Schüssen auf dem Maidan-Platz in Kiew steckt. Ein abgehörtes Telefongespräch heizt die Spekulationen weiter an.

Donnerstag: Die Lage in Kiew eskaliert
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Wer beauftragte die Scharfschützen auf dem Maidan? Die ukrainische Übergangsregierung und der Kreml liefern ganz unterschiedliche Erklärungen für die Ereignisse vom 20. Februar, die Dutzende Menschen das Leben kosteten. Für die neue Führung geht es um die Glaubwürdigkeit - beim eigenen Volk und innerhalb der internationalen Gemeinschaft.

Die ukrainischen Behörden konzentrierten sich in ihren Ermittlungen bisher auf die Regierung des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch als wahrscheinlich Verantwortlichen. Nun steht aber die Theorie im Raum, Russland habe möglicherweise die Gewalt anfachen wollen, um ein militärisches Eingreifen zu rechtfertigen.

Der Kreml erklärt dagegen, die Scharfschützen seien von Anführern der Opposition angeheuert worden. Ihr Ziel sei es gewesen, im In- und Ausland Empörung über die Regierung auszulösen. Der neue ukrainische Gesundheitsminister Oleh Musij, der als Arzt die medizinische Versorgung am Rande der Protestaktionen organisierte, erklärte, die Opfer aus den Reihen der Opposition und der Sicherheitskräfte wiesen ganz ähnliche Schusswunden auf.

Erste forensische Beweise liegen vor

Die forensischen Beweise deuten daraufhin, dass die Schützen versucht hätten, die Auseinandersetzungen anzuheizen, um Janukowitsch stürzen zu können und einen Grund für einen russischen Einmarsch zu liefern. Er glaube, nicht nur ein Teil des alten Regimes habe die Provokation geplant, "sondern das war auch die Arbeit russischer Spezialkräfte, die der Ideologie des alten Regimes dienten", erklärte Musij.

So viel steht fest: Scharfschützen feuerten von Dächern und aus Fenstern auf den Maidan im Herzen der Hauptstadt Kiew. Einige Opfer waren Anhänger der Opposition, aber viele waren auch Passanten, die eindeutig nicht an den Demonstrationen beteiligt waren, Ärzte und Polizeibeamte. Die Kugeln wurden der Staatsanwaltschaft zufolge vom Gebäude der Nationalbank, mehrere hundert Meter vom Maidan entfernt, abgefeuert, vom Hotel Ukraine direkt an dem Platz und von einem Verwaltungsgebäude.

Dritte Kraft hatte offenbar ihre Finger im Spiel

Innenminister Arsen Awakow deutete am Dienstag erstmals an, dass die Ermittlungen sich nicht mehr nur auf die alte ukrainische Regierung konzentrieren. "Ich kann nur eins sagen: Der wichtigste Faktor in diesem Aufstand, der Blut in Kiew vergoss und der das Land auf den Kopf stellte und schockierte, war eine dritte Kraft", sagte der Minister. "Und diese Kraft war keine ukrainische."

Russland nutzte die unklaren Verantwortlichkeiten, um die neue ukrainische Führung zu diskreditieren. Kremlchef Wladimir Putin erklärte am Dienstag in einer Pressekonferenz, die Scharfschützen seien möglicherweise "Provokateure aus den Reihen der Oppositionsparteien gewesen".

Telefongespräch zwischen Ashton und Paet scheint Putins Theorie zu stützen

Tatsächlich wurde einen Tag später ein Telefongespräch zwischen der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet veröffentlicht, das Putins Theorie zu stützen scheint. In dem Telefonat vom 26. Februar, das der russische Fernsehsender Russia Today veröffentlichte, erklärte Paet, er habe während eines Besuchs in Kiew von Demonstranten erfahren, dass Janukowitsch-Gegner hinter den Schüssen vom 20. Februar steckten.

Ein Arzt habe ihm gesagt, dass Polizeibeamte und Demonstranten von Kugeln desselben Kalibers getötet worden seien. Inzwischen werde immer mehr angenommen, dass irgendjemand aus der neuen Koalition die Heckenschützen beauftragt habe, erklärte Paet weiter.

Der estnische Minister bestätigte inzwischen die Echtheit der Aufnahme. Er sagte vor Journalisten in Tallinn, er habe nur wiedergegeben, was er von dem Arzt Olha Bogomolets gehört habe. Er könne dessen Aussagen aber nicht bestätigen.

Ex-Vize-Chef des ukrainischen Geheimdienstes: Scharfschützen waren ukrainischen Agenten

Der frühere Vize-Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU meldete sich am Donnerstag in einem Zeitungsinterview zu Wort. Hennadi Moskal erklärte, für die tödlichen Schüsse auf dem Maidan seien Heckenschützen des Innenministeriums und des SBU verantwortlich und nicht ausländische Agenten. "Die Scharfschützen erhielten den Befehl, nicht nur auf Demonstranten zu schießen, sondern auch auf Polizisten", sagte Moskal der Zeitung zufolge. "Das geschah, um den Konflikt eskalieren zu lassen und eine Polizeioperation zur Räumung des Maidans zu rechtfertigen."

Der 57 Jahre alte Alexander Tonskich erlitt auf dem Maidan eine Schusswunde. Er erzählt, er habe sich gemeinsam mit zahlreichen anderen Demonstranten am Morgen des 20. Februar in Richtung Süden vom Maidan entfernt. Die Polizisten hätten sich plötzlich zurückgezogen und dann seien schon aus zwei Richtungen die Schüsse gefallen. Die Menschen "wurden umgemäht wie Gras". Mindestens zehn seien sofort tot gewesen.

Danach sei aus einer dritten Richtung geschossen worden. Er habe sich hinter einem Baum versteckt, sei aber dennoch von einer Kugel getroffen wurde, die in seinen rechten Arm eintrat, seine Lunge durchschlug und unterhalb des Herzens steckenblieb. Dann verlor er das Bewusstsein.

(ap)
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