Umsturz in der Ukraine "Willkommen in der Hölle" — Regierung in Kiew gleich unter Druck

Kiew · Spannungen mit Russland, drohender Bankrott: Die neue ukrainische Regierung hat vom Start weg mit gewaltigen Hinterlassenschaften des gestürzten Präsidenten Janukowitsch zu kämpfen. Und auch die unterschiedlichen Protestgruppen verlangen Mitsprache.

Bewaffnete besetzen Regierungsgebäude auf der Krim
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Auch als Anführer eines Himmelfahrtskommandos hat Arseni Jazenjuk seinen Humor nicht verloren. "Dies ist eine Regierung der politischen Selbstmörder", beschreibt der neue ukrainische Ministerpräsident sein Kabinett. Kaum ein Mitglied dürfte sich um einen Posten in der Übergangsregierung in Kiew gerissen haben.

"Wir werden extrem unpopuläre Schritte machen müssen", gibt Jazenjuk, ein Weggefährte von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, schon einmal die Marschroute vor. Das Land steht vor dem Bankrott. "Also: Willkommen in der Hölle", sagt der 39-Jährige in einem Interview.

Mit breiter Unterstützung schickt das Parlament in Kiew den früheren Parlamentschef, Außen- und Wirtschaftsminister auf eine "Mission: Impossible", stellt ihn vor eine fast unlösbare Aufgabe. "Die Staatskasse ist ausgeraubt und leer", betont Jazenjuk.
Mindestens 15 Milliarden US-Dollar Soforthilfe braucht das Land. Es herrscht ein System von Vetternwirtschaft und Korruption — so hat der gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch die Schalthebel der Macht verlassen.

Auf der Krim werden Rufe der Abspaltung lauter

Die wirtschaftliche Lage der Ex-Sowjetrepublik ist desaströs. Die Landeswährung Griwna ist seit Wochen in freiem Fall, die Währungsreserven schmelzen dahin. Als erstes muss die Regierung einen wirtschaftlichen Notplan beschließen und dann mit Geldgebern wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abstimmen. "Das Land befindet sich am Rande des politischen und ökonomischen Zusammenbruchs", sagt Jazenjuk. Schmerzvolle soziale Einschnitte seien unvermeidlich.

Zudem ist die Ukraine zerrissen wie nie in ihrer jüngeren Geschichte. Auf der Halbinsel Krim werden die Rufe der russischsprachigen Mehrheit nach einer Abspaltung lauter. Sie fürchtet Unterdrückung durch ukrainische Nationalisten, den gewaltbereiten Kern des Umsturzes.

Fraglich aber ist zunächst, ob die neue Regierung das Vertrauen des Protestlagers hat. Bei der Vorstellung der Kabinettsmitglieder auf dem Maidan in Kiew, dem Zentrum der Demonstration, gab es deutlich hörbare Pfiffe - auch gegen Jazenjuk, dem viele nicht verzeihen, dass er dem verhassten Janukowitsch bei Verhandlungen die Hand geschüttelt hat. Der Maidan will eine Regierung mit neuen Namen. Fachleute statt parteipolitisches Geschacher. Hinzu kommen Querschüsse Janukowitschs, der auf der Flucht hetzt, die Parlamentsentscheidungen seien illegal.

Klitschko nicht im Kabinett

Nun sitzen doch viele bekannte Gesichter aus den Reihen der bisherigen Opposition am Kabinettstisch. Vertreter der Partei Udar (Schlag) von Vitali Klitschko fehlen zunächst. Der Ex-Boxweltmeister, so heißt es in Kiew, wolle seine Chancen bei der Präsidentenwahl am 25. Mai nicht durch Teilnahme am "Selbstmörder"-Kabinett gefährden.

Jazenjuk selbst ist trotz seines recht jungen Alters bereits ein Altgedienter. Vizepremier Boris Tarassjuk war bereits zweimal Außenminister. Energieminister Juri Prodan und Sozialministerin Ljudmila Denissowa hatten dieselben Posten bereits unter Julia Timoschenko inne. Es sind viele Mitglieder von Timoschenkos Partei Batkiwschtschina dabei. Die Ex-Regierungschefin selbst hält sich aber zunächst raus, sie plant, ihr Rückenleiden in Deutschland behandeln zu lassen.

Dem großen Einfluss des Maidan muss die Regierung aber auch gerecht werden. So gilt die Ernennung von Dmitri Bulatow zum Jugend- und Sportminister als wichtiges Zeichen. Der Janukowitsch-Gegner soll während der Proteste entführt und schwer gefoltert worden sein. Auch die "Stimme des Maidan" ist dabei — der Schauspieler Jewgeni Nischtschuk ist neuer Kulturminister. Er hatte die Proteste von einer Bühne aus moderiert. Maidan-Chefmediziner Oleg Mussi wird mit dem Amt des Gesundheitsministers belohnt.

"Die Regierung wird kritisiert werden, wie Dreck behandelt"

Radikale Protestierer fehlen auf den ersten Blick. Das soll Vorwürfe vor allem aus Russland entkräften, Extremisten und Rechtsradikale hätten den Umsturz ausgeführt. Doch sie sind eingebunden, wenn auch nicht in erster Reihe. So soll "Maidan-Kommandant" Andrej Parubij den Sicherheitsrat leiten. Die Zustimmung von Splittergruppen wie dem gewaltbereiten Rechten Sektor gilt als fundamental für das Gelingen der neuen Regierung, die sich im Parlament auf 250 Abgeordnete stützen kann. Insgesamt gibt es 450 Sitze.

"Die Regierung wird kritisiert werden, wie Dreck behandelt", sagt Interimspräsident Alexander Turtschinow voraus. "Aber sie muss ihre Verpflichtungen erfüllen und bis zur Erschöpfung arbeiten für das Wohl der Ukraine." Trotzdem soll es nach der Präsidentenwahl im Mai auch vorgezogene Parlamentswahlen geben. Dann würde — voraussichtlich im Herbst — eine gewählte Führung das Ruder übernehmen.

(dpa)
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