Türkei Würge-Affäre um Erdogan

Istanbul (RP). Regierungschef Recep Tayyip Erdogan soll einen 13-Jährigen attackiert haben, weil der ihn kritisiert hatte. Das hatte nun rechtliche Konsequenzen – aber nicht für den Politiker, sondern für den Jungen. Erdogan verhalte sich inzwischen wie ein Monarch, sagen Beobachter.

Eklat 2009: Erdogans wütender Abgang in Davos
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Istanbul (RP). Regierungschef Recep Tayyip Erdogan soll einen 13-Jährigen attackiert haben, weil der ihn kritisiert hatte. Das hatte nun rechtliche Konsequenzen — aber nicht für den Politiker, sondern für den Jungen. Erdogan verhalte sich inzwischen wie ein Monarch, sagen Beobachter.

An dem Tag, der sein Leben verändert, will Mehmet eigentlich nur Basketball spielen. Der 13-jährige Schüler aus dem westtürkischen Aydin hat sich mit Freunden verabredet und wartet an einer Straßenecke. Wenig später kreuzt sich Mehmets Weg dort mit dem des mächtigsten Mannes der Türkei. Die Begegnung geht nicht gut aus für den Jungen. Zwischenzeitlich droht ihm gar eine Haftstrafe.

An jenem 9. März ist viel los in der Stadt. Aus Ankara ist Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan angereist, um im Kommunalwahlkampf zu reden. Wie häufig bei Besuchen in der Provinz dreht Erdogan nach seiner Rede in seinem Wahlkampfbus bei offener Tür eine Runde durch die Stadt. Mehmet — sein echter Name wird aus Jugendschutzgründen nicht veröffentlicht — ist kein Anhänger Erdogans. Sein Vater ist ein kleiner Elektriker, die Familie leidet unter den Folgen der Wirtschaftskrise. Als Erdogans Bus vorbeirollt, ruft der Junge: "Allah wird dich bei den Wahlen bestrafen!"

Der Premier schickt Leibwächter los, um ihn aus der Menge zu pflücken — so berichten es Mehmet und sein Anwalt Kemal Aytac später. Die Männer schleppen den Jungen vor den Premier. Der packt Mehmet mit links am Nacken. Erdogan, ein kräftiger Zwei-Meter-Mann, drückt zu. "Was hast du gesagt?", herrscht er den Jungen an. Der wiederholt seinen Satz. Und fügt hinzu: "Ich mag dich nicht." "Lasst ihn laufen", sagt Erdogan zu den Leibwächtern. Die Bodyguards aber schleifen Mehmet zur Polizei. Auf dem Weg durch die Menge sei er geschlagen worden, sagt Mehmet später. Auch ein Leibwächter habe ihn misshandelt. Auf der Wache nehmen die Beamten Mehmets Personalien auf. Vorwurf: Beleidigung des Ministerpräsidenten. Kurz darauf lässt die Polizei den Jungen gehen.

Der Presse zeigt Mehmet am Tag darauf die Striemen im Nacken, wo Erdogan ihn gepackt hat. Seine Familie wendet sich mit einer Beschwerde an den Staatsanwalt, doch die Ermittlungen kommen nicht weit: Die Polizei erklärt, es gebe keine Videoaufnahmen von dem Zwischenfall. Der Staatsanwalt stellt seine Ermittlungen ein.

Mehr noch: Statt Erdogan musste jetzt Mehmet vor Gericht. Ein anderer Staatsanwalt in Aydin drohte ihm mit bis zu drei Jahren Haft wegen Beleidigung eines führenden Staatsvertreters. "So etwas gibt es sonst nirgendwo auf der ganzen Welt", schimpft Anwalt Aytac: "Ein Prozess, in dem sich der Ministerpräsident und ein kleiner Junge gegenüberstehen." Aytac ist einer von mehr als 40 Juristen, die sich freiwillig gemeldet haben, um Mehmet zu verteidigen. Er und seine Kollegen wittern einen Justizskandal, und sie wollen es dem Ministerpräsidenten nicht durchgehen lassen, dass er sich so aufführt. Dass der Prozess überhaupt anberaumt wurde, sei ungeheuerlich, schimpft Aytac. Erstens habe Mehmet den Ministerpräsidenten nicht beleidigt. Zweitens sei Erdogan nicht als Premier in Aydin gewesen, sondern als Parteichef — das Verbot, führende Vertreter des Staates zu beleidigen, greife also nicht. Dass so ein Prozess möglich sein soll, findet er absurd: "So ein Land ist die Türkei."

Wie die Türkei zwischen obrigkeitsstaatlicher Tradition und einer modernen Gesellschaft wankt, so vereint Erdogan Züge eines orientalischen Despoten mit denen eines westlichen Reformers. Er hat mehr für die Annäherung seines Landes an die EU getan als alle anderen Regierungschefs vor ihm, aber er hat sich auch den Ruf erworben, mit Kritik nicht umgehen zu können. Sein Argument ist immer dasselbe: Diese oder jene Bemerkung sei über das Maß der gesetzlichen Meinungsfreiheit hinausgegangen. Dabei teilt er oft selbst deftig aus. Der Premier zeige inzwischen monarchische Tendenzen, sagt die Psychologin Vicdan Yücel.

Kritiker müssen aufpassen, was sie sagen. Oppositionschef Deniz Baykal nannte Erdogan im letzten Wahlkampf einen "Proleten" — und wurde zu umgerechnet 5000 Euro Schadensersatz verurteilt.

In Aydin beginnt unterdessen der Prozess gegen Mehmet. Anwalt Aytac fordert die sofortige Einstellung. Anderthalb Stunden nach Prozesseröffnung stimmt der Richter zu und beendet das Verfahren — es gebe keinen strafwürdigen Tatbestand. Aytac sagt danach: "Für das Kind ist es gut, dass es vorbei ist."

(RP)
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