Analyse Bangen um den italienischen Patienten

Rom · Für Italien brechen entscheidende Tage an. Von dem Urteil über Silvio Berlusconi hängt die Zukunft der Regierung ab. Wenn sich die Marschrichtung der Koalition nicht ändert, braucht das Land bald erhebliche Finanzhilfen.

Die Ungewissheit im Strafverfahren um Silvio Berlusconi und das damit verbundene Schicksal der Regierung bewegt in diesen Tagen Italien. Berlusconi, zwischen 1994 und 2011 viermal Premier, führt die an der großen Regierungskoalition beteiligte Partei "Volk der Freiheit". Sobald der Oberste Gerichtshof in Rom ein letztinstanzliches Urteil verkünden, werde die Koalition platzen — das haben Berlusconis Gefolgsleute angekündigt. Der 76-Jährige, der in erster und zweiter Instanz zu vier Jahren Haft wegen Steuerbetrugs verurteilt wurde, muss im Fall einer Bestätigung dieser Urteile alle öffentlichen Ämter, also auch seinen Sitz im Senat, abgeben.

Die Folge ist erneutes politisches Chaos mit nicht absehbarer Wirkung auf die Märkte, die Italien weiter Vertrauen entziehen könnten. "Entweder ändert sich die Marschrichtung, oder das Defizit ist nicht mehr tragbar", sagt Francesco Giavazzi, Ökonom an der Bocconi-Universität in Mailand. Eine Kursänderung ist nicht in Sicht. Alles wirkt derzeit so, als steuere Italien auf ein erneutes Desaster zu.

Wie es trotzdem weitergehen könnte, erforscht Paolo Manasse. Der renommierte Makroökonom von der Universität Bologna hat drei Szenarien im Kopf. Erstens: Die Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta führt wirksame Reformen ein. "Das glaube ich eher nicht", sagt Manasse. Zweitens: langsames Dahinsiechen wie bisher und hoffen, dass der Aufschwung so bald wie möglich einsetzt. Drittens: der Bruch der Regierungskoalition, weiteres Misstrauen der Märkte und schließlich die Flucht unter den EU-Rettungsschirm und in die Arme von Mario Draghi, den Chef der Europäischen Zentralbank (EZB). "Fifty-fifty. Dieser August könnte unschöne Überraschungen bringen", prophezeit Manasse, der schon die EU-Kommission und den Internationalen Währungsfond (IWF) beraten hat.

Schon einmal stand das Land vor dem wirtschaftlichen Abgrund. 2011 hatte sich die Schuldenkrise für Italien zugespitzt, die Anleger stuften die Kreditwürdigkeit des Landes immer niedriger ein, es drohte der Kollaps der Staatsfinanzen. Premier Silvio Berlusconi musste zurücktreten, es übernahm der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti. Angesichts des drohenden Desasters gelang Montis Regierung eine grundlegende Pensionsreform, die den Staatsfinanzen langfristig Luft verschaffen sollte. Als der Notstand fürs Erste überwunden schien, das Vertrauen der Märkte zurückkam, wurden die weiteren von Monti konzipierten Reformen verwässert. Die trügerische Ruhe verleitete einige Parteien dazu, ihre altbekannte Klientelpolitik weiterzuverfolgen. Hier wurde ein Schräubchen gedreht, da eine Lobby ruhiggestellt. Strukturelle Reformen blieben aus. Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert. Dabei ist die Lage der italienischen Wirtschaft denkbar schlecht.

Der IWF hat seine Prognose für den Rückgang der Wirtschaftsleistung in 2013 weiter nach unten korrigiert. Um fast zwei Prozent soll Italiens Wirtschaft schrumpfen. Das Land befindet sich in der größten Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Täglich müssen Hunderte Firmen schließen, die Arbeitslosigkeit steigt, etwa 40 Prozent aller Jugendlichen haben keinen Job. Die Rezession könnte bald "den sozialen Frieden bedrohen", warnte Ende Mai der Vorsitzende der Banca d'Italia, Ignazio Visco. Schon heute gibt es regelmäßig Berichte über steigende Armut.

Eine der wenigen positiven Nachrichten: Die Neuverschuldung bleibt offenbar unter der von der EU festgesetzten Drei-Prozent-Grenze. Aber sie wächst dennoch. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert, dass Italiens Staatsschulden, die derzeit bei etwa 130 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen, in den kommenden Jahren weiter ansteigen werden. Die Schuldenlast ist mit über zwei Billionen Euro enorm, keinen Staat in der Eurozone drückt ein größeres Minus. Es ist unstrittig, dass Italien Wachstum braucht. Lettas Regierung hat deshalb Ausgaben in Höhe von drei Milliarden Euro versprochen, der Staat soll außerdem alte Lieferantenverbindlichkeiten in Höhe von 90 Milliarden Euro Stück für Stück begleichen. So aber drohen die Schulden weiter zu wachsen. Und damit auch das Misstrauen der Anleger, ob Italien seine Verbindlichkeiten zurückzahlen kann.

Die Rating-Agentur Standard & Poors senkte in diesen Tagen ihre Bewertung der Kreditwürdigkeit Italiens. Die Frage, die sich viele stellen, lautet: Könnte die drittgrößte Volkswirtschaft Europas im Fall des Falles überhaupt gerettet werden? Beruhigend wirkt für manche das Versprechen von EZB-Chef Mario Draghis. Er hatte 2012 angekündigt, die EZB werde "alles Erforderliche tun, um den Euro zu retten". Das bedeutet: Die Bank kann theoretisch unendlich Geld drucken lassen und im Fall des Falles unbegrenzt italienische Staatsanleihen aufkaufen. Doch diese Geldpolitik würde auf die Widerstände von EU-Partnern wie etwa Deutschland stoßen, wo man höhere Inflation scheut wie der Teufel das Weihwasser.

Derweil liegt der italienische Patient weiter auf der Intensivstation, weitgehend ignoriert von seinem Leibarzt, der italienischen Politik. Auf grundlegende strukturelle Reformen können sich die Koalitionspartner nicht einigen. Stabile Verhältnisse sind eine Voraussetzung für das Vertrauen der Märkte. Doch die von Premier Enrico Letta geführte und erst Ende April vereidigte Regierung hängt wie die meisten der bisher 62 Nachkriegsregierungen Italiens am seidenen Faden. Inhaltlich streiten sich Linksdemokraten, die kleine Partei Mario Montis und die Berlusconi-Partei "Volk der Freiheit" über die Abschaffung der Grundsteuer und das Aussetzen der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Das sind Wahlkampf-Versprechen Berlusconis.

(RP)
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