Analyse Bildungs-Angst nützt Privatschulen

Düsseldorf · Jahr für Jahr gewinnen private Schulen an Zuspruch. Das liegt nicht nur daran, dass deren Angebot als besser gilt – es hat auch viel mit dem Misstrauen der Deutschen gegenüber dem staatlichen Schulsystem zu tun.

Was haben NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann, Unternehmer August Oetker und Oscar-Preisträger Florian Henckel von Donnersmarck gemeinsam? Nicht die Herkunft, auch nicht unbedingt die politische Überzeugung, wohl aber ein wichtiges Detail ihrer Bildungsbiografie: Sie alle haben eine Privatschule besucht. Henckel von Donnersmarck lernte am Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, Oetker ist Absolvent der Schule Schloss Salem am Bodensee, und Löhrmann machte ihr Abitur am katholischen Mädchengymnasium Beatae Mariae Virginis ("BMV") in Essen.

Die drei gehören als Ex-Privatschüler zu einer wachsenden Gruppe. In NRW ist seit 1990 die Zahl aller Schüler nur um gut acht, die der Privatschüler dagegen um mehr als 37 Prozent auf knapp 169 000 gewachsen – ein Anstieg der Privatschüler-Quote von 6,3 auf acht Prozent. Seit 2003 sinken die Schülerzahlen, aber die Zahl der Privatschüler steigt weiter. Noch stärker war der Zuwachs in ganz Deutschland.

Woher kommt das? "Ich habe an meiner Schule mit all ihren Facetten sehr gehangen", sagt Löhrmann, wenn man sie nach dem gewissen Etwas der Privatschulen fragt: "Im katholischen Mädchengymnasium hat die Werteorientierung eine große Rolle gespielt, und ich habe gelernt, dass Mädchen und Frauen alles erreichen können." Die eigene pädagogische, religiöse oder weltanschauliche Prägung sei das Unterscheidungsmerkmal der Privatschulen.

Mit deutlicher Spitze gegen die staatlichen Schulen beantwortet der Verband Deutscher Privatschulverbände (VDP) die Frage, woher der stetige Zulauf kommt. "Die freien Schulen profilieren sich besonders durch spezielle pädagogische Konzepte und innovative Ansätze, die es im staatlichen Bildungssystem so nicht gibt", sagt VDP-Präsidentin Petra Witt. "Eltern haben heutzutage wesentlich höhere Erwartungen an die Schule als noch vor 15 Jahren." Gefragt seien etwa eine individuelle Betreuung der Schüler und Lernen "in einer angstfreien Umgebung".

Innovation und Profilierung – das ist die eine Seite der Medaille. Wer die andere beschreibt, mag so hässliche Wörter wie Angst, sogar Panik in den Mund nehmen: Der Attraktivität der Privatschulen entspricht die Unattraktivität des öffentlichen Schulsystems. Das Zutrauen dazu haben die Deutschen nämlich weitgehend verloren. Weniger als ein Fünftel erklärte 2010 das staatliche Schulwesen für vorbildlich. Umgekehrt stimmten 80 Prozent der Aussage zu, die Verantwortung für die Ausbildung der Kinder liege vor allem bei ihnen selbst. Es gibt keine Gründe für die Annahme, dass sich seither daran Grundlegendes geändert hätte. Milliardenumsätze der Nachhilfeanbieter und die jährlich aufs Neue zu besichtigende Sorge der Eltern von Viertklässlern, ihr Kind könne durch Anmeldung an einer "falschen" Schule in eine "Schublade" rutschen, aus der es nie mehr herausfindet, sprechen eher für fortdauernde Bildungsangst, genährt auch von der Sorge um den sozialen Familienstatus.

Von "Bildungspanik" spricht angesichts all dessen sogar der Kasseler Soziologe Heinz Bude. Er beobachtet einen Exodus aus den staatlichen Schulen etwa in Berlin und warnt: "Die öffentlichen Schulen bleiben dann übrig für die vermeintlichen Verlierer. Das ist eine gefährliche Tendenz." Jörg Dräger, Bildungsvorstand der Bertelsmann-Stiftung, sagt: "Privatschulen entstehen dort, wo es sich Eltern finanziell leisten können, die ihren Kindern etwas Besseres zu ermöglichen glauben als öffentliche Schulen." Dräger spricht von "einer Flucht aus dem staatlichen System": "Die Eltern treibt die Sorge, die eigenen Kinder würden nicht genug lernen oder durch die Vielfalt im Klassenzimmer gebremst. Das ist ein Krisensymptom."

Eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung kam 2011 zu einem ähnlichen Schluss: "Eine wichtige gesellschaftliche Funktion von Privatschulen wird in der Kompensation von Unzulänglichkeiten des öffentlichen Schulwesens gesehen." Vor allem Ganztagsbetreuung, Förder- oder mehrsprachiger Unterricht an öffentlichen Schulen gälten als mangelhaft. Die Studie geht aber noch weiter. "Es ist offensichtlich", heißt es dort, "dass das Hauptmotiv der Eltern, ihre Kinder an Privatschulen anzumelden, der Wille zur Milieunähe und Distinktion ist."

Soll heißen: Eltern von Privatschülern bleiben im Zweifelsfall lieber unter sich. In einer Erhebung kreuzten 2006 – neuere Daten liegen nicht vor – 42 Prozent als Grund für eine Anmeldung ihres Kindes an einer Privatschule den Satz an: "Mein Kind soll in einem besseren sozialen Milieu aufwachsen." Zusammen mit "An staatlichen Schulen kommt die Ausbildung der Persönlichkeit der Kinder zu kurz" war dies die meistgenannte Antwort. Die Studie der Ebert-Stiftung prangert denn auch an, "soziale und ethnische Segregation", also Trennung nach Einkommen und Herkunft, sei "faktische Begleiterscheinung eines parallel zum öffentlichen Schulsystem existierenden Privatschulwesens".

Dass an Privatschulen die bildungsnahen Schichten besonders gern ihre Kinder anmelden, sei zwar richtig, sagt Verbandspräsidentin Witt. Aber: "Hier geht es nicht um Abgrenzung. Sich mit den Bildungsmöglichkeiten für die eigenen Kinder intensiv auseinanderzusetzen – das geschieht nun einmal vermehrt in bildungsnahen Haushalten."

Hinzu kommt die soziale Komponente, kurz gesagt: das Geld. Gefragt danach, wer sich denn ein Abitur in Salem überhaupt leisten könne, antwortet Schulleiter Bernd Westermeyer lieber, die Frage sei doch, was Eltern bereit seien, in die Ausbildung zu investieren. Denn es kommen schon ein paar Euro zusammen: Während etwa die Schulen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, zu denen das Graue Kloster gehört, maximal 496 Euro pro Monat Schulgeld verlangen, sind es in Salem bis zu 2890. Ihr Lob für die Privatschulen in NRW verbindet Schulministerin Löhrmann daher mit der Mahnung: "Entscheidend ist, dass auch die Privatschulen ihren Beitrag zu mehr Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Inklusion leisten."

"Privat statt Staat" in der Bildung bleibt ein zweischneidiger Trend: Der Zulauf zu den Privatschulen erzählt mindestens so viel von den Ängsten der Deutschen wie von ihren Hoffnungen.

(RP)
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