Berlin BND-Affäre: Liste mit 460.000 Suchbegriffen aufgetaucht

Berlin · Die Bundesregierung versucht, Konsens über einen Sonderermittler zur Auswertung des geheimen Materials zu erzielen.

Die Affäre um Ausspähversuche des amerikanischen Geheimdienstes NSA in Europa mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes (BND) nimmt kein Ende. Sie war in Fahrt gekommen, als sich im März nach einer Liste mit 12.000 Suchbegriffen eine weitere mit 40.000 gefunden hatte. In einer vertraulichen Sitzung erfuhr der NSA-Untersuchungsausschuss nun, dass auf den Rechnern in der Zentrale eine weitere Liste mit fast 460.000 "Selektoren" - also Suchmerkmalen wie E-Mail-Adressen oder Telefonnummern - entdeckt worden sei.

Mit wachsender Fassungslosigkeit hatten die Abgeordneten auch in einer Sitzung bis zu mitternächtlicher Stunde den fragwürdigen Umgang des BND mit den Suchbegriffen ermittelt. BND-Präsident Gerhard Schindler räumte ein, dass die Überprüfung von Anfang an lückenhaft gewesen sei. Offensichtlich kann der Dienst nun auch kaum noch klären, welche Suchbegriffe, die als "abgelehnt" auf die Listen kamen, gar nicht erst in die Abhörfilter eingebaut wurden und welche dort erst nachträglich oder erst bei Prüfungen im Jahr 2013 entdeckt wurden. Die NSA soll jahrelang europäische Firmen, Politiker und Behörden als Spionageziele in die BND-Kommunikationsüberwachung in Bad Aibling eingeschleust haben.

Die Geheimdienstspitze will von der Problematik erst durch die Nachfragen des Untersuchungsausschusses erfahren haben. Auch habe sie auf dem Höhepunkt der Enthüllungen von Edward Snowden über das weltweite Wirken des NSA nicht nachgefragt, heißt es. Schindler sagte, er habe nicht die Fantasie gehabt, dass sich unter den Suchbegriffen für die Kommunikation in Somalia oder Afghanistan auch solche mit europäischen Bezügen befinden könnten. Den Umgang auf der Arbeitsebene mit den problematischen Spionagewünschen der Amerikaner erklärte Schindler mit dem Handeln gegen terroristische Bedrohung. Der BND profitiere von der Zusammenarbeit deutlich mehr als die NSA durch die Zulieferungen aus Deutschland, betonte er.

Am Mittwoch soll sich auch der geheim tagende Bundessicherheitsrat mit Möglichkeiten befasst haben, die parlamentarische Kontrolle der "Selektoren"-Listen zu ermöglichen, ohne die im BND-NSA-Abkommen garantierte Geheimhaltung zu verletzen. Als Ergebnis bemüht sich die Bundesregierung hinter den Kulissen offenbar erneut um Zustimmung zu einem Sonderermittler, der das Vertrauen aller Fraktionen besitzt und stellvertretend für sie oder mit einzelnen ausgewählten Abgeordneten die Listen durchgeht, ohne dass davon Kopien oder Aufzeichnungen gemacht werden dürfen.

Ausschuss-Chef Patrick Sensburg (CDU) forderte organisatorische Konsequenzen beim BND. Der Dienst habe sich jahrelang "durchgewurschtelt". Aber auch der BND hat Erwartungen an die Politik: Er fordert eindeutige rechtliche Grundlagen für seine Auslandsaufklärung.

(may-)
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