Analyse Christlich-jüdisch? Anmaßung!

Meinung Seit Jahren gehört der Begriff der "christlich-jüdischen Tradition" zur öffentlichen Sprache. Theologisch mag das zutreffen - politisch ist es Geschichtsklitterung. Diese Tradition gibt es in Deutschland erst seit 1945.

Jetzt ist sie wieder in aller Munde: die christlich-jüdische Tradition. Zuletzt tat sich vor allem die CSU damit hervor, wenn es nämlich darum ging, gegen den Islam zu argumentieren. "Dass Deutschland geschichtlich und kulturell christlich-jüdisch und nicht islamisch geprägt ist, kann doch niemand ernsthaft bestreiten", sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer im März. Die Formel "christlich-jüdisch" oder "jüdisch-christlich" findet sich aber, wahlweise in Verbindung mit den Substantiven "Tradition" oder "Grundlagen", auch in den Programmen von CDU, SPD und AfD. Seit gut zehn Jahren ist sie in der politischen Debatte verstärkt nachweisbar; seit Christian Wulffs Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2010 ("Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland") ist das "Christlich-Jüdische" Teil des offiziellen Redekanons.

Das ist eine Anmaßung, und zwar gegenüber den Juden in Deutschland. Aber eine, die auf den ersten Blick überzeugend daherkommt: Unsere Kultur ist religiös geprägt, und das Christentum ist aus dem Judentum entstanden. Theodor Heuss hat von drei Hügeln gesprochen, auf denen das Abendland entstanden sei - Golgatha, der Akropolis und dem Kapitol. Außer in der klassischen Antike wurzeln wir im Christentum, das den Juden Jesus als Gott bekennt. Und beweisen nicht Heinrich Heine, Felix Mendelssohn Bartholdy und Sigmund Freud, wie eng verwoben, ja symbiotisch christliche und jüdische Kultur in Deutschland stets waren?

Schön wär's. Eine Anmaßung ist es, von christlich-jüdischer Tradition zu reden, weil diese Tradition in Deutschland vor allem aus Ausgrenzen, Entrechten, Vertreiben, Ermorden der Juden durch Nichtjuden - meist Christen - besteht. Schon am Ende des 11. Jahrhunderts, als der Papst zum Kreuzzug rief, attackierten die Kreuzfahrer auf dem Weg zum Heiligen Grab in ihrem Furor reihenweise die Gemeinden der angeblichen Gottesmörder. Juden wurden für Jahrhunderte Rechtssubjekte zweiter Klasse und stets zum Sündenbock, wenn die Lage schlecht war, etwa zu Pestzeiten. Ihre bürgerliche Gleichberechtigung betrieb nicht die Kirche, sondern die kirchenfeindliche Aufklärung. Vom millionenfachen Mord des Holocaust war da noch gar keine Rede.

Von christlich-jüdischer Tradition sprechen nicht nur Politiker, sondern auch Theologen. In der Tat ist es kein kleines Wunder, wie klar heute die beiden großen Kirchen das Verbindende zwischen Juden und Christen betonen. Wiederkehrende Irritationen wie die Debatten um die katholische Karfreitagsfürbitte alter Form (für die "treulosen Juden") oder um evangelische Israelkritik (wie jetzt im Rheinland) gehören dazu. Insgesamt aber leitet jenes Wort aus dem Römerbrief des Juden Paulus das Handeln, das die rheinische Kirche 1980 ihrem wegweisenden Synodalbeschluss über das Verhältnis zu den Juden voranstellte: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich."

Nun hat die öffentliche Relevanz der Theologen seit Längerem stark nachgelassen. Was also sagen die Politiker? Die benutzen das "Christlich-Jüdische" entweder ausgrenzend, und zwar gegen den Islam, so wie CSU und AfD, oder inklusiv, um das besondere Verhältnis zu den Juden und Israel zu betonen und Zusammenhalt zu beschwören. So pflegt zum Beispiel Angela Merkel vom Christlich-Jüdischen zu reden.

Das Problem ist: Es handelt sich in beiden Fällen um Geschichtsklitterung, bestenfalls um einen Anachronismus, ob nun böse oder gut gemeint. Christlich-jüdische Tradition mit echtem Bindestrich gibt es in Deutschland erst seit 1945. Vorher gab es auch Assimilation und sozialen Aufstieg, aber die meiste Zeit lebte man allenfalls aneinander vorbei - die Juden bis in die Neuzeit oft gezwungen, besondere Kennzeichen zu tragen. Geschützt wurden sie, wenn und weil sie Steuern zahlten. Heine und Mendelssohn, die sich taufen ließen, verkörpern nicht nur die Koexistenz des Jüdischen mit dem Christlichen, sondern auch das Hadern mit der Religion der Väter und die brutale Ausgrenzung. Judenhass wurde christlich begründet, selbst noch von Hitler in "Mein Kampf": "Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn." Auch wenn das reine Propaganda war - der Satz zeigt, an welche Traditionen die Nazis anknüpfen konnten.

Charlotte Knobloch, die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hat jüngst in unserer Zeitung von "unserem christlich-jüdischen Menschenbild" gesprochen. Das ist nur theologisch begründbar. Für die Tagespolitik ist das Christlich-Jüdische - als Tradition, Prägung, Kultur oder Erbe - unbrauchbar. Leitet man es bloß religiös her, springt das im säkularen Staat zu kurz. Leitet man es historisch her, ist es ignorant.

Knobloch hat auch gesagt: "Das heutige Deutschland ist eine gute Heimat." Es ist berührend, dass Juden in Deutschland überhaupt wieder so etwas sagen. Es klingt obendrein beruhigend, weil man sich davon Normalität suggerieren lassen könnte. Das aber wäre absurd, abgesehen davon, dass es Juden gibt, die es ganz anders sehen als Knobloch: Normalität gibt es wegen des Holocaust in Deutschland nicht, darf es nicht geben. Paradox genug ist dabei, dass Deutschland in Sachen Judenfeindlichkeit mit zuletzt knapp 1500 polizeilich erfassten antisemitischen Delikten pro Jahr international ziemlich "normal" ist. (Trotzdem ist die Zahl unerträglich hoch.)

Der Antisemitismus hierzulande war nie weg. Er äußert sich, verstärkt auch durch die Flüchtlingskrise, nur wieder ungenierter. Trotzdem wäre es perfide zu behaupten, muslimische Judenhasser beleidigten unsere schöne christlich-jüdische Tradition. Diese Tradition hat zu Heines Gedichten geführt, aber auch nach Auschwitz. Wir sollten aufhören, uns da etwas vorzumachen.

(fvo)
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