Celle Das Baltikum wird in Niedersachsen verteidigt

Celle · In einem Hightech-Übungszentrum in Celle trainiert die Bundeswehr Luftlandeoperationen - vor allem mit Blick auf Osteuropa.

Ein Hubschrauber nähert sich im Tiefflug dem feindbesetzten Flugplatz auf einer Insel mitten im Atlantik. Der Pilot sitzt in einer Kaserne im niedersächsischen Bückeburg, die Fallschirmjäger an Bord befinden sich in einem Hangar im Süden der Lüneburger Heide. Sie sehen sich selbst auf den zahlreichen Bildschirmen in der riesigen Halle wie in einem Computerspiel - als Avatar, als Grafikfigur, die sich nach ihren Vorgaben bewegt und damit das virtuelle Gesamtgeschehen individuell beeinflussen kann.

Hinter einer Trennwand trainieren die Soldaten kurz darauf in voller Ausrüstung den Angriff auf ein Gebäude. Es ist grob mit Sperrholz, Sackleinen und Pappe angedeutet. Kunstblut fließt aus dem zerfetzten Unterschenkel einer Hightech-Trainingspuppe in Bundeswehruniform, im Ernstfall würde nun jede Sekunde zählen. Und nur wenige Stunden später fliegen draußen sechs echte Helikopter ein. Im Hangar bereiten Soldaten unterdessen einen vier Tonnen schweren gepanzerten "Mungo"-Transporter als Außenlast vor. Das zuvor Geübte findet nun im Gelände statt - ganz real, Dreck und nasskaltes Nebelwetter inklusive.

Noch schneller, noch präziser und noch koordinierter sollen künftig Luftlandeoperationen ablaufen. Das hat sich das neue Ausbildungs- und Übungszentrum Luftbeweglichkeit in Celle zum Ziel gesetzt, das jetzt die Arbeit aufgenommen hat. Alles, was bei der Bundeswehr bei solchen Einsätzen fliegt oder vom Himmel springt, wird hier auf dem Militärflugplatz Celle-Wietzenbruch künftig speziell trainiert. Das im Juli 2016 offiziell in Dienst gestellte Zentrum demonstrierte im November in einer zweitägigen Pilotübung seine Fähigkeiten.

Der sicherheitspolitische Hintergrund wurde bei der Premiere in Celle nur indirekt deutlich: Die vorgegebene Lage spielte auf einer fiktiven Insel namens Pandora, auf der das Nato-Mitglied Obsidia überraschend von einem Nachbarland überfallen worden war. Die deutschen und niederländischen Fallschirmjäger erhielten daraufhin den Auftrag, einen Flugplatz in Obsidia freizukämpfen, um Verstärkungskräfte des Bündnisses sicher einfliegen zu können. Ähnlichkeiten mit der Lage Polens und der drei baltischen Staaten an der Nato-Ostflanke, die sich von Russland massiv bedroht fühlen, sind erkennbar. Dem Alptraum einer russischen Hybrid-Attacke auf Estland, Lettland und Litauen kann das Bündnis trotz aller Anstrengungen wohl nicht rechtzeitig und entschieden genug begegnen.

Nach Nato-Angaben hat Russland im westlichen Militärdistrikt nahe der Grenze 65.000 Soldaten, 750 Panzer und 320 Kampfflugzeuge stationiert. Die drei baltischen Staaten insgesamt verfügen über nur 10.450 Soldaten, drei Panzer und kein einziges Kampfflugzeug. Luftlandekräfte könnten in einem Bedrohungsfall besonders schnell Flagge zeigen und damit einen Schlüsselbeitrag zu einer erfolgreichen Abschreckung liefern.

Die Amerikaner demonstrieren mit spektakulären Luftlandemanövern immer wieder ihre Fähigkeiten dazu. Auch die Bundeswehr will ihre Einsatzfähigkeit verbessern - das Ausbildungszentrum in Celle soll dazu einen wichtigen Beitrag leisten. In zweiwöchigen Lehrgängen werden Einheiten zunächst bis zur Kompaniegröße und später auch komplette Einsatzverbände für alle Herausforderungen bei Luftlandungen fit gemacht. Eine derart praxisnahe Kombination aus taktischer Simulation durch moderne elektronische Ausstattung, Drill an Verfahrenstrainern und einsatznahem Üben mit realen Luftfahrzeugen hat es bei der Bundeswehr bislang noch nicht gegeben.

In Celle wird Englisch gesprochen: "Das verbessert und vereinfacht die internationale Zusammenarbeit", erläuterte der Kommandeur des Zentrums, Oberst Carsten Jahnel. "Auslandseinsätze erfolgen für Deutsche schließlich grundsätzlich multinational."

Das Zentrum ermögliche nicht nur eine wetter- und tageszeitunabhängige Ausbildung, sondern sei zudem kostensparend und umweltfreundlich, betonte Jahnel. "Wir können zunächst Verfahren einüben, ohne auf Hubschrauber oder Flugzeuge zurückgreifen zu müssen." Noch dominiert in Celle die Improvisation. Doch ab 2019, wenn der Regelbetrieb aufgenommen werden soll, werden in fünf ehemaligen Flugzeughallen 160 Rechner stehen, an denen Piloten, Bordschützen, Fallschirmjäger und Sanitäter virtuell alle denkbaren taktischen Lagen im Team durchspielen können. "Das gegenseitige Verständnis zwischen den Luftfahrzeugbesatzungen und den Bodenkräften wird durch unsere integrierte Ausbildung deutlich verbessert", sagt der Oberst.

In einer der Hallen, die einst insgesamt bis zu 24 Hubschrauber aufnehmen konnten, wird ein Gelände mit Deckungs- und Beobachtungsmöglichkeiten nachgebildet, es entsteht außerdem ein großes Schießkino. Mit sogenannten Verfahrenstrainern, den originalgetreu nachgebildeten oder ausgesonderten Zellen aller bei der Bundeswehr verwendeten Kampf- und Transporthubschrauber sowie des niederländischen Helikopters CH-47, lässt sich das schnelle Aus- und Einsteigen, das Aufwinschen, das Abseilen sowie der Einsatz der Bordmaschinengewehre üben.

Diese "Mock-ups" genannten Attrappen werden an der Decke befestigt und sind horizontal wie vertikal beweglich, Wind und Wetter sowie Tageszeiten sollen wirklichkeitsgetreu eingespielt werden: Während draußen die blasse Wintersonne durch die Wolken scheint, packen die Soldaten drinnen beispielsweise bei Dunkelheit und Regen mit Nachtsichtbrillen Lasten. "Bereits bei dieser Pilotübung haben die Soldaten des Fallschirmjägerregiments 31 eine Verbesserung von 40 auf 20 Minuten erreicht", berichtet Jahnel zufrieden. "Wir bieten hier die möglichst perfekten Rahmenbedingungen für solche Übungen."

Vorgesehen ist dafür die bundesweite Vernetzung aller entsprechenden Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr, zum Beispiel des Ausbildungsbereichs für taktische Feuerunterstützung im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein, wenn es in der fiktiven Lage um den Einsatz von Artillerie geht. Für den Praxisteil inklusive scharfem Schuss ist dagegen eine enge Verzahnung mit dem Gefechtsübungszentrum des Heeres in Letzlingen (Sachsen-Anhalt), dem Gefechtssimulationszentrum in Wildflecken (Bayern) und den Truppenübungsplätzen Altengrabow und Bergen sowie dem benachbarten Standortübungsplatz Scheuen geplant.

Unter den hochrangigen militärischen und zivilen Gästen, die die Pilotübung besuchten, waren mehrere niederländische Offiziere; zur ersten Übungstruppe gehörten ebenfalls Soldaten aus dem westlichen Nachbarland. "Diese Zusammenarbeit möchten wir forcieren", sagte Jahnel. Nutznießer sei vor allem die deutsche Division Schnelle Kräfte. Aber auch Jäger, Panzergrenadiere oder Sicherungskräfte von Luftwaffe und Marine könnten in Celle trainiert werden. In Planung sei ferner die Ausbildung beweglicher Arzttrupps am Großraumtransporthubschrauber CH-53.

90 Prozent der 168 Dienstposten des Zentrums seien bereits besetzt, berichtete der Oberst weiter. 2017 gehen, so der Zeitplan, die ersten drei Fallschirmjägerzüge in die reguläre Ausbildung, 2018 folge der erste Zug der niederländischen 11. Luftlande-Brigade. 2019 will die Einrichtung den ersten Gefechtsverband ausbilden und dabei Bedingungen bieten, die denen des jeweiligen Einsatzlandes möglichst exakt nachempfunden sind.

(mic)
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