Analyse Das Land der geplatzten Träume

Rio De Janeiro · Brasilien sah sich auf dem Weg zur neuen Supermacht. Doch eine Wirtschaftskrise, Inflation und Korruption machen dem südamerikanischen Staat schwer zu schaffen. Präsidentin Dilma Rousseff bekommt den Zorn ihrer Landsleute zu spüren. Bundeskanzlerin Merkel besucht heute eine Nation in Aufruhr.

Ausgelassene Samba-Tänzer, ein farbenprächtiger Karneval und leicht bekleidete Strandschönheiten an der Copacabana - von den in Deutschland gängigen Klischees eines bunten und fröhlichen Landes ist Brasilien derzeit sehr weit entfernt. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird deshalb heute und morgen bei den deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen auf eine angespannte Präsidentin Dilma Rousseff treffen, die hofft, dass ihr die Fotos an der Seite der in Südamerika populären deutschen Kanzlerin im Stimmungstief zumindest etwas helfen.

Denn viel tiefer geht es für Rousseff nicht mehr: Auf nur noch zehn Prozent sind die Zustimmungswerte abgestürzt. Brasiliens Präsidentin steckt in der tiefsten politischen Krise seit ihrem Amtsantritt 2011. Der knappe Wahlsieg vor einem Jahr, als sie sich vor allem dank der vielen Stimmen im bettelarmen Nordosten gegen den bürgerlichen Herausforderer Aecio Neves durchsetzen konnte, ist längst vergessen.

Seit Rousseff im Amt ist, sind viele brasilianische Träume geplatzt: der Aufstieg zu einer neuen Supermacht dank Erdölreichtums ebenso wie der Traum vom Fußball-WM-Erfolg im eigenen Land. Die Folge ist eine tief anhaltende Depression, aus der es kaum ein Entrinnen gibt, und für die die Brasilianer ihre Präsidentin persönlich verantwortlich machen.

Die Probleme des mit Abstand größten Landes in Südamerika sind nicht einfach lösbar: Die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt erstreckt sich über eine Fläche von 8,5 Millionen Quadratkilometer (24 Mal so groß wie Deutschland) und ist Heimat für 201,5 Millionen Menschen (2,5 Mal mehr Einwohner, als in der Bundesrepublik leben). Die Industrieproduktion ist eingebrochen. Drohende Arbeitsplatzverluste und eine steigende Verschuldung wirken sich negativ auf den Konsum aus; das Investitionsklima ist schlecht. Nachdem das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr mit 0,1 Prozent stagnierte, soll es dieses Jahr laut Prognose des Internationalen Währungsfonds sogar um 1,5 Prozent schrumpfen.

Die Inflation treibt die Kosten für den Durchschnitts-Brasilianer. Besonders betroffen ist Rousseffs Kernklientel, die Armen in den Favelas, den Elendsvierteln. Gemessen an den Ressourcen müsste Brasilien eigentlich sehr gut dastehen. Aber weite Teile der Wirtschaft sind marode, das Land leistet sich eine Bürokratie, die nachhaltiges Wachstum kaum möglich macht.

Das Land gehört zu den sogenannten Bric-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), die allesamt Wirtschaftsprobleme haben, und leidet letztlich unter seinen vielen Superlativen - zum Beispiel einer Landwirtschaft mit gigantischen Flächen, auf denen Mähdrescher nur via Satellitennavigation ihren Weg finden können. Das Straßennetz ist in schlechtem Zustand, einen funktionierenden Schienenverkehr - zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch für den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes extrem wichtig - gibt es kaum noch. Hinzu kommt, dass die hochtrabenden Pläne mit dem halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras angesichts des nachhaltig niedrigen Welt-Ölpreises nicht umzusetzen sind.

Zum dritten Mal kam es am Wochenende zu Massenprotesten gegen Rousseff. Rios sechsspurige Avendia Atlantica, direkt am weltberühmten Copacaba-Strand gelegen, ist längst zum Aufmarschgebiet der Rousseff-Gegner umfunktioniert. Die angeschlagene Linkspolitikerin scheint im Umfragetief orientierungslos. Auf Druck der wirtschaftsstarken Metropolregionen Sao Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte versuchte es die ehemalige Guerilla-Kämpferin mit einem Schwenk in die Mitte. Hier, wo das Geld erwirtschaftet wird, das in die teuren, aber an Rousseffs Wahlbasis populären Sozialprogramme in den Nordosten abfließt, schlägt der Präsidentin aber die ganze Wucht der Ablehnung entgegen. Viele Brasilianer aus den Wirtschaftszentren fühlten sich von Rousseff ausgenutzt. Das lassen sie Dilma, wie die Präsidentin im Land gerufen wird, nun spüren.

Zusätzlich verliert Rousseff jetzt Fürsprecher in den eigenen Reihen. Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, so etwas wie der Übervater der regierenden Arbeiterpartei, hat sich bereits kritisch zu Rousseffs Richtungswechsel geäußert. Er sieht die Machtbasis der linksgerichteten Partei weiterhin im Nordosten und in den Favelas. Er will an der sozialistischen Grundausrichtung der Regierungspartei nichts ändern.

Schlimmer als den Kurswechsel und die Wirtschaftsmisere treffen Rousseff allerdings die vielen Korruptionsskandale, in die ihre Partei verstrickt ist. Rousseffs Markenkern, der Ruf einer zwar langweiligen, dafür aber unbestechlichen Politikerin, ist angekratzt. Nahezu alle wichtigen Politiker ihrer Arbeiterpartei, Lula inklusive, sind im Zuge der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in den Abwärtsstrudel geraten.

Rousseffs großer Fehler: Als ein brasilianisches Nachrichtenmagazin im Wahlkampf die Enthüllungen rund um den gigantischen Petrobras-Korruptionsskandal publik machte, reagierte sie zunächst mit dem Vorwurf, die Journalisten seien Träger einer politischen Kampagne, um die Wahl zu ihren Ungunsten zu beeinflussen. Rousseff gewann dennoch knapp, musste dann aber kleinlaut einräumen, dass die unglaublich erscheinenden Vorwürfe doch zutreffen: Von den Verträgen, die Petrobras abschloss, floss stets ein Teil des Erlöses direkt in die Kassen der Arbeiterpartei. Eine derart dreiste Selbstbedienungsmentalität gibt es auf dem südamerikanischen Kontinent eigentlich nur noch in Venezuela, wo die Parteifunktionäre gleich direkten Zugang zu den Kassen des staatlichen Erdölkonzerns besitzen.

Brasiliens bürgerliches Lager fühlt sich nach diesen Enthüllungen und der knappen Wahlniederlage um den Sieg betrogen. Egal was Rousseff jetzt anpackt - ihr haftet der Makel eines "unmoralischen Sieges" an.

(RP)
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