Pierre Moscovici "Das sind zutiefst sozialdemokratische Werte"

Der EU-Wirtschaftskommissar hofft auf eine große Koalition in Berlin und will den Bundestag weiter beim Euro mitreden lassen.

Brüssel Das Büro von Pierre Moscovici liegt im EU-Kommissionsgebäude in Brüssel im "Charlemagne"-Flügel: Karl der Große als Name für einen Gebäudeteil und als Symbolfigur der deutsch-französischen Eintracht, die Moscovici für die unverzichtbare Voraussetzung jeden Fortschritts in Europa hält.

Herr Moscovici, wenn am Sonntag der SPD-Parteitag über mögliche Koalitionsverhandlungen befindet, scheint es fast so, als stünde das Schicksal Europas auf dem Spiel...

Moscovici Und dafür gibt es ja auch einen guten Grund. Wir haben in der EU-Kommission das Sondierungspapier mit großer Befriedigung gelesen. Es ist getragen vom Willen, Europa voranzubringen, und es enthält ambitionierte Ideen, die mir kompatibel scheinen mit den Reformvorschlägen, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die Kommission gemacht haben. Wenn ich das Sondierungsergebnis vergleiche mit dem, was aus den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen bekannt geworden ist, handelt es sich wirklich um einen großen Fortschritt, für den ganz besonders auch meine Freunde von der SPD gekämpft haben. Ich weiß, dass die Partei mit sich ringt, ob sie erneut eine große Koalition eingehen soll, und ich kann das sehr gut verstehen. Trotzdem will ich an die Sozialdemokraten appellieren: Europa schaut auf euch und zählt auf euch! Die SPD trägt in dieser Situation eine doppelte Verantwortung. Zum einen braucht Deutschland endlich eine stabile und handlungsfähige Regierung, was nach Stand der Dinge nur mit einer großen Koalition möglich ist. Und zum anderen braucht die EU diese Regierung, um die nötigen Reformen anzugehen. Natürlich ist es an den Delegierten, am Sonntag ihre Entscheidung zu treffen. Aber ich bin sicher, ein Ja für diese Regierung würde ihnen historisch recht geben und sich auch politisch auszahlen. Das sage ich als EU-Kommissar, als überzeugter Europäer und als Sozialdemokrat.

Im Sondierungspapier ist unter anderem die Rede davon, den Europäischen Stabilitätsmechanismus weiterzuentwickeln zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF), der im EU-Recht verankert werden soll. Wie kann das in der Praxis aussehen?

Moscovici Diese Initiative, den EWF als europäische Institution zu verankern, ist ein echter Durchbruch. Denn dadurch wird künftig eine parlamentarische Kontrolle möglich, und wir beenden die Praxis, dass über den Einsatz der Mittel wie bisher allein von den nationalen Regierungen praktisch im Hinterzimmer entschieden wird. Wir brauchen mehr Transparenz und mehr Demokratie in der Eurozone, nicht noch mehr Technokratie. Ich denke, das ist ein großes sozialdemokratisches Anliegen, das da umgesetzt werden soll.

Die Verfügungsgewalt über den Währungsfonds wandert also von den Nationalstaaten nach Brüssel?

Moscovici Nein, so kann man das nicht sagen. Die Regierungen werden sicher wie bisher im Wesentlichen die Verwaltung eines solchen Währungsfonds schultern. Als EU-Institution wäre er allerdings in erster Linie dem Europaparlament verantwortlich. Aber das schließt eine Beteiligung nationaler Parlamente keineswegs aus. So wie der Bundestag in der Vergangenheit über die Griechenlandprogramme abgestimmt hat, wird er auch in Zukunft ein Wort zu sagen haben, wenn es um deutsches Steuergeld geht.

Über welche Summen reden wir? Der französische Präsident hat mehrere Hundert Milliarden Euro ins Gespräch gebracht.

Moscovici Anders als Macron will die EU-Kommission keinen Haushalt für die Eurozone schaffen, sondern lediglich einen speziellen Topf innerhalb des EU-Budgets dafür ausweisen. Mein deutscher Kollege Günther Oettinger bereitet dafür konkrete Vorschläge im Zuge der regulären Finanzplanung vor. Für mich sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht die konkreten Summen entscheidend. Sie müssen aber so bemessen sein, dass wir genügend Schlagkraft haben, um in Europa neben der Absicherung von Risiken in der Währungsunion eine kontinuierliche Wachstumspolitik zu betreiben, das ist das Entscheidende. Ich finde es übrigens sehr bemerkenswert, dass im Sondierungspapier von SPD und Union die klare Bereitschaft formuliert wird, zusätzliche finanzielle Anstrengungen für die EU zu stemmen.

Von substanziell mehr Geld für die Verteidigung - auch dies gehört ja zu den europäischen Reformprojekten - ist dagegen nicht die Rede. Zusätzliche Mittel fürs Militär sind unter Sozialdemokraten nicht populär.

Moscovici Als Sozialdemokrat bin ich ein großer Anhänger des Gedankens von Sicherheit. Aller Formen von Sicherheit. Der sozialen Sicherheit, aber auch des Schutzes vor physischer Aggression. Sicherheit schafft Frieden, Frieden schafft Sicherheit. Das sind zutiefst sozialdemokratische Werte.

In dem Papier ist auch die Rede von sozialen EU-Mindeststandards...

Moscovici Ja, auch das ist sehr begrüßenswert, denn es handelt sich um eine Antwort auf einen Vorschlag der EU-Kommission. Wir streben einen gemeinsamen Sockel sozialer Rechte in der EU an. Das können etwa Mindestlöhne in allen Mitgliedsländern sein, die wir Schritt um Schritt annähern sollten. Oder die Einführung einer Basis-Arbeitslosenversicherung. Da ist vieles denkbar, wir müssen ausloten, was machbar und sinnvoll ist.

Alle diese Projekte weisen in eine Richtung: mehr europäische Integration, "mehr Brüssel". Eine Vorstellung, die nicht überall populär ist. Haben Sie keine Angst, dass die Spaltungen in der EU sich noch vertiefen?

Moscovici Es ist richtig, das alles zielt ganz klar auf eine Vertiefung der Integration ab. Und ich glaube, darüber gibt es heute einen breiten Konsens zwischen der EU-Kommission, Frankreich und Deutschland. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass diese drei Akteure der EU neue Anstöße geben können, wenn sie am selben Strang ziehen. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die angestrebten Reformen allen in der EU zugutekommen, und dass wir auch jene mitnehmen können, die heute vielleicht noch skeptisch sind.

Die einen gehen voran, die anderen folgen - das ist das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Wie weit kann man dieses Prinzip treiben, bis die EU auseinanderbricht?

Moscovici Ich bin strikt gegen die Vorstellung eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten ...

... aber es existiert doch längst!

Moscovici Nein, das würde ich so nicht sagen. Was es dagegen gibt, sind "Koalitionen der Willigen". Jene, die vorangehen wollen, dürfen das tun. Aber das muss immer offen für alle anderen bleiben. Das beste Beispiel dafür ist der Euro. Heute sind 19 EU-Länder Mitglied im Währungsverbund, aber alle anderen sind herzlich eingeladen beizutreten, sobald sie die technischen Anforderungen erfüllen. Und wir helfen ihnen aktiv dabei, sich darauf vorzubereiten. Ich habe mich immer gegen diese Idee der Aufspaltung Europas gewehrt, in Ost und West. Ich selbst habe Wurzeln in Osteuropa, mein Vater war Rumäne, meine Mutter stammt aus Polen. Und ich weiß, dass wir Europäer zusammengehören, egal wie politisch zerstritten wir gelegentlich wirken mögen. Es gibt nur ein Europa.

Die Vorstellung, Europa sozusagen gesundzuschrumpfen, ist also eine Illusion?

Moscovici Natürlich. Wer kann ernsthaft glauben, dass plötzlich alles gut wäre, wenn wir ein oder zwei Störenfriede vor die Tür setzten? Das funktioniert nicht. Wir müssen Verstöße gegen unsere gemeinsamen Regeln sehr ernst nehmen und mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln sanktionieren, um die betreffenden Mitglieder auf den Weg der Tugend zurückzuführen. Das verlangt viel Geduld und viel Nerven. Aber ausschließen? Nein!

MATTHIAS BEERMANN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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