Demokratie-Serie (9) Was Migranten von unserer Demokratie halten

Düsseldorf · Welches Verhältnis pflegen Migranten zur Demokratie? Unterscheiden sie sich darin von Deutschen? Untersuchungen belegen bedenkliche Tendenzen und erstaunliche Gemeinsamkeiten.

Flüchtlinge überqueren im November 2015 eine Brücke zwischen Österreich und Deutschland (Archiv).

Flüchtlinge überqueren im November 2015 eine Brücke zwischen Österreich und Deutschland (Archiv).

Foto: dpa, kne tba sab jai

Imame, die mitten in Deutschland in den Gotteshäusern der Muslime gegen Integration wettern. Tausende Deutschtürken, die in der Bundesrepublik das von Ankara gesteuerte Werben für ein Referendum bejubeln, mit dem der türkische Präsident Erdogan über fast diktatorische Vollmachten verfügen würde. Eine Staatssekretärin muslimischen Glaubens in der Berliner Senatskanzlei, die die Scharia für "absolut kompatibel" mit dem Grundgesetz hält. Nicht zuletzt die Aufgabe, mehr als eine Million Menschen einzugliedern, die allein seit Anfang 2015 aus Ländern hierher geflüchtet sind, in denen weder Demokratie noch Gleichberechtigung noch die freie Entfaltung der Persönlichkeit ihre Lebenswirklichkeit prägten — all das wirft Fragen auf: Welchen Stellenwert hat Demokratie für Migranten? Denken sie anders über Demokratie als Deutsche?

"Die vielen Deutschtürken, die mit Erdogans Ansichten nicht übereinstimmen, kommen kaum zu Wort", antwortet Ahmet Toprak. Der Professor für Erziehungswissenschaften und Dekan der Fachhochschule Dortmund hält den aktuellen Eindruck für verzerrt: "Selbst die, die Erdogan zujubeln, sind längst nicht ganz auf seiner Seite. Was diese meist jungen Leute erreichen wollen, ist, überhaupt wahrgenommen zu werden."

Erdogan als Vaterfigur

Toprak, selbst Kind türkischer Gastarbeiter, verweist auf ein Dilemma der in dritter Generation in Deutschland lebenden Türken: "Eine Vielzahl unter ihnen fühlt sich zu kurz gekommen. Für sie ist Erdogan eine Art Vaterfigur. Er verkörpert identitätsstiftende Werte, die die Jungen umso mehr schätzen, als sie sie im Gegensatz zu ihren Großeltern nie gelebt oder erfahren haben."

Gleichwohl attestiert Toprak einem Teil der aus der Türkei Eingewanderten ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie: "In Deutschland fordern sie für sich gleiche Rechte und Redefreiheit, in der Türkei aber werden Einschränkungen, etwa in Bezug auf Minderheiten, akzeptiert. Diese Doppelmoral erlebt man nicht selten." Hinzu komme, dass das Gesellschaftsbild vieler Türken und anderer Zuwanderer weiterhin religiös-patriarchalisch geprägt sei: "Gleichberechtigung? Toleranz gegenüber Andersdenkenden? Das Recht auf Selbstbestimmung in einer offenen Gesellschaft? Das haken bei Weitem nicht alle unter Demokratie ab."

Nun ist es nicht so, als wären hierzulande auf dem Boden des Grundgesetzes lauter lupenreine Demokraten gewachsen. In Ostdeutschland ist auch mehr als 26 Jahre nach der Wiedervereinigung ein Fremdeln mit der Freiheit spürbar. Hüben wie drüben hadern Deutsche mit den Zumutungen der offenen Gesellschaft. Das macht sie noch nicht zu Verfassungsfeinden. Die Grenze liegt da, wo die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Zweifel gezogen wird, wo Fundamentalisten die Religion darüber stellen, genau wie wenn "Reichsbürger" die Existenz der Bundesrepublik leugnen.

"Zurück zu den Wurzeln"

Auch Gewalt überschreitet diese Grenze klar. Der Migrationsforscher Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin verweist auf eine Studie im Auftrag des Bundesinnenministeriums, bei der 2007 herauskam, dass acht Prozent der Muslime in Deutschland damit einverstanden sind, Gewalt gegen Ungläubige anzuwenden, wenn es der islamischen Gemeinschaft dient. Wie verbreitet islamisch-fundamentalistische Einstellungen in Deutschland sind, geht auch aus einer Untersuchung der Universität Münster von 2016 hervor: 47 Prozent der befragten Muslime mit türkischen Wurzeln stimmten dem Satz zu: "Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe." Fast 60 Prozent der Muslime stehen hinter dem Satz "Zurück zu den Wurzeln", während nur 20 Prozent Christen ihn unterschreiben .

Inzwischen haben mehr als 17 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund; das sind mehr als 20 Prozent der Bevölkerung. Die drei wichtigsten Herkunftsländer sind nach wie vor die Türkei, Polen und die Russische Föderation. Unter den Flüchtlingen, die Deutschland 2015/2016 erreichten, bilden Syrer, Afghanen und Iraker die stärksten Gruppen.

Flüchtlinge schätzen Menschenrechte

Fragt man jene, die die Gefahren der Flucht auf sich genommen haben, nach den Gründen, warum sie die Bundesrepublik als Ziel wählten, nennen in einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, des Bundesamtes für Migration und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2016 fast drei Viertel die Achtung der Menschenrechte. Die repräsentative Erhebung zieht direkte Vergleiche zu Umfragen unter Deutschen.

So unterstützen 96 Prozent der Geflüchteten die Aussage, dass "man ein demokratisches System haben sollte". Das finden auch 95 Prozent der Deutschen. 96 Prozent der Geflüchteten und 92 Prozent der Deutschen sind überdies der Meinung, "dass Menschen ihre Regierung in freien Wahlen bestimmen sollen". Jeweils 92 Prozent sehen Gleichberechtigung als Bestandteil der Demokratie.

Viele Gemeinsamkeiten mit Deutschen

Rund ein Fünftel der Geflüchteten sympathisiert mit der Idee eines "starken Führers, der sich nicht um ein Parlament und um Wahlen kümmern muss". Dem schließen sich allerdings auch 22 Prozent der Deutschen an. Ferner begrüßen 55 Prozent der Geflüchteten, dass Experten und nicht die Regierung entscheiden sollten, was für das Land das Beste ist. Bei den Deutschen sind es 59 Prozent.

Die Frage, ob ein Religionsführer die Auslegung der Gesetze bestimmen soll, beantwortet eine Minderheit von 13 Prozent der Geflüchteten mit Ja. Dieser Wert liegt deutlich über dem der Deutschen (immerhin acht Prozent), wird allerdings von Ägyptern, Algeriern, Irakern, Jemeniten, Libyern und Palästinensern nach oben getrieben, von denen etwa 55 Prozent dafür sind.

So groß die Unterschiede zwischen Deutschen und Zuwanderern bei der Herkunft sein mögen — beim Demokratieverständnis liegen sie bisweilen erstaunlich nahe beieinander. Interessant wäre, wie Zuwanderer wohl eine Umfrage beantwortet hätten, bei der sich Deutsche unlängst so positionierten: Mehr als 60 Prozent glauben, dass in ihrem Land keine echte Demokratie herrscht. Drei von zehn Befragten gaben an, sie könnten sich eine wirkliche Demokratie nur ohne Kapitalismus vorstellen. Ein Fünftel forderte eine Revolution, da Reformen die Lebensbedingungen nicht verbesserten.

(bew)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort