Analyse Der Balkan entgleitet Europa

Wien · Während die EU mit sich selbst beschäftigt ist, geraten die demokratisch noch nicht gefestigten ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken immer stärker ins geopolitische Spannungsfeld zwischen Ost und West. Russland und die Türkei dehnen ihren Einfluss aus.

Regionales Denken und Handeln ist Politikern auch 25 Jahre nach dem Untergang des alten Jugoslawien noch ziemlich fremd. Anstatt als Gemeinschaft gestärkt gegenüber EU und Nato aufzutreten, sucht jeder der jungen Staaten den eigenen Weg nach Europa.

Doch auch für die EU ist der Balkan zum Nebenschauplatz geworden. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Ehrengast auf dem Gipfeltreffen von acht südosteuropäischen Staatschefs am Pfingstwochenende in Slowenien, mahnte: Die politische Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung der Region "berührt die ganze EU", weshalb sie die "höchste Priorität" verdiene.

Die ehemaligen Teilrepubliken haben sich recht unterschiedlich entwickelt, blieben aber gesamthaft bis heute ein Abbild des alten Jugoslawien: ein relativ wohlhabender Norden mit Slowenien und Kroatien; und ein relativ armer Süden mit Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und dem seit 2008 selbstständigen Kosovo; und irgendwo dazwischen liegt Serbien, früher mit der Hauptstadt Belgrad das Machtzentrum Jugoslawiens, und bis heute die Schlüsselmacht für Stabilität und Frieden auf dem Balkan.

Mit Ausnahme Sloweniens, dessen Demokratie dank mitteleuropäischem Selbstverständnis am weitesten entwickelt ist, haben sich in den übrigen Ländern hinter demokratischen Fassaden mehr oder minder ausgeprägte autokratische Systeme mit teils schwer korrupten Eliten etabliert. Die ungelösten Konflikte der grausam geführten Zerfallskriege in den 90er Jahren bergen genügend Potenzial, um den alten Nationalismus, der Jugoslawien zerstört hat, am Leben zu erhalten. Damit lässt es sich bequem von der Unfähigkeit ablenken, sich aktuellen und zukünftigen Problemen zu stellen.

So blieben die nachbarschaftlichen Beziehungen der ehemals führenden Kriegsgegner Serbien und Kroatien bis heute eher feindselig. Dabei könnten beide Länder Motor für die Entwicklung der gesamten Region sein. Auch im Kosovo-Konflikt wird der Krieg mit politischen Mitteln fortgesetzt. Serbien verweigert die staatliche Anerkennung seiner ehemaligen Albanerprovinz nur vordergründig mit souveränitätspolitischen und kulturhistorischen Argumenten; letztlich dient das Kosovo als Faustpfand für die EU-Beitrittsverhandlungen. Im ethnisch zerrissenen Bosnien-Herzegowina wiederum sind die Machthaber nicht willens, die Einheit zum gemeinsamen Ziel zu erklären. Die große Mehrheit der Serben und namentlich die Kroaten der Herzegowina bekennen sich nicht einmal zu diesem Staat, sondern sehen sich als Bürger ihrer jeweiligen Mutterrepublik.

In den letzten zehn Jahren geriet Südosteuropa auch immer stärker in das geopolitische Spannungsfeld zwischen West und Ost. Slowenien und Kroatien sind mittlerweile EU- Mitglieder und Nato-Länder, Montenegro stieß im Frühjahr zum westlichen Verteidigungsbündnis, EU-Verhandlungen laufen noch. Doch gerade in den ärmeren südlichen Ländern hat Europa an Einfluss deutlich verloren, seit klar ist, dass die von einer Systemkrise geschüttelte EU auf Jahre hinaus keine Neumitglieder verkraften kann.

Dieses Vakuum nützt Russland weidlich aus: Serbien laviert unentschlossen zwischen Brüssel und Moskau, doch es dient Kreml-Chef Wladimir Putin längst als Stützpunkt auf dem Balkan. Auch die Türkei zeigt immer stärkeres Interesse an dieser europäischen Region, die jahrhundertelang zum Osmanischen Reich gehörte, und bietet sich den Balkan-Muslimen als Schutzmacht gegen die slawische Vorherrschaft an.

Angesichts dieser brisanten Entwicklungen wäre es hoch an der Zeit, dass die EU eine Zukunftsstrategie für den Balkan entwickelt, soll er nicht verloren gehen. Beobachten, Mahnen und Appellieren genügen längst nicht mehr. Immerhin fördert die EU nun aktiv die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums auf dem Westbalkan. Die Idee solle bei einer Regionalkonferenz Mitte Juli beschlossen und binnen eines Jahres verwirklicht werden, sagte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn. Brüssel will so auch die regionalen Konflikte beschwichtigen und Migration bremsen. "Entweder wir exportieren Stabilität oder wir importieren Instabilität", sagte Hahn.

(RP)
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