Stanislaw Petrow Der Held, der den Dritten Weltkrieg verhinderte und der Mann, der ihn berühmt machte

Oberhausen · Im Alleingang hat der Offizier Stanislaw Petrow 1983 einen Atomkrieg verhindert. Dass die Welt von dem in Russland nicht gewürdigten Mann erfuhr, liegt auch an Karl Schumacher aus Oberhausen. Anlässlich des 40. Jahrestags blicken wir auf diesen besonderen Moment zurück.

 Karl Schumacher (l.) und Stanislaw Petrow 1999 in Oberhausen.

Karl Schumacher (l.) und Stanislaw Petrow 1999 in Oberhausen.

Foto: Schumacher

Zu einer Heldengeschichte gehört nicht nur eine Heldentat, sondern auch jemand, der davon erzählt. Im Fall des sowjetischen Offiziers Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow ist dieser jemand nicht etwa ein russischer Propagandist, sondern Karl Schumacher, 66, ein umtriebiger Unternehmer aus Oberhausen. Er ist es, der Mitte September die Nachricht verbreitete, dass Petrow im Alter von 77 Jahren in aller Stille gestorben ist. Und Schumacher ist es auch, der Petrow im Westen überhaupt erst so bekannt gemacht hat, dass der Russe von den Vereinten Nationen ausgezeichnet wurde und dass ein Dokumentarfilm mit Kevin Costner über ihn gedreht wurde. „Petrow hat die Welt gerettet“, sagt Schumacher mit Nachdruck, „und zwar wortwörtlich“.

Petrow hatte in der Nacht auf den 26. September 1983 Dienst im sowjetischen Frühwarnsystem „Oko“ (Auge), installiert etwa 100 Kilometer südlich von Moskau. Das Verhältnis zwischen Ost und West war in jener Phase des Kalten Krieges besonders gespannt. Nur wenige Wochen zuvor hatten sowjetische Jagdflugzeuge eine südkoreanische Boeing 747 abgeschossen, die sich auf sowjetisches Gebiet verirrt hatte. 269 Zivilisten starben. In der Nachtschicht zeigten Petrows Bildschirme plötzlich den Abschuss von fünf US-Interkontinentalraketen an - anscheinend der Beginn eines Nuklearangriffs auf die Sowjetunion. Aufgabe des Offiziers wäre gewesen, die Führung zu alarmieren, um den Gegenschlag auszulösen. Doch dem Physiker, der die Anlage selbst mitkonstruiert hatte, kam der Alarm merkwürdig vor. Es erschien ihm unlogisch, dass der Angriff nicht mit Dutzenden Atomraketen zugleich erfolgte, sondern die Geräte nur einzelne Projektile anzeigten. „Hinsetzen! Weiterarbeiten!“, befahl Petrow deshalb seinen 200 Mitarbeitern. Auf eigene Faust beschloss der Oberstleutnant, von einem Fehlalarm auszugehen - und sollte damit Recht behalten. Wahrscheinlich war der sowjetische Frühwarnsatellit von einem Sonnenstrahl irritiert worden.

Bis zu seinem Tod am 19. Mai lebte Petrow in einer kleinen Wohnung in der Nähe von Moskau.

Bis zu seinem Tod am 19. Mai lebte Petrow in einer kleinen Wohnung in der Nähe von Moskau.

Foto: dpa, AZ wal

Hausbesuch beim Helden in Russland

Bekannt wurde Petrows Heldentat erst sehr viel später. Im September 1998 stieß Schumacher, ironischerweise Bestattungsunternehmer, auf einen kurzen Artikel in der "Bild"-Zeitung, demzufolge Petrow verarmt und verbittert in einer winzigen Wohnung lebe, mit einer kleinen Soldatenrente, die kaum zum Überleben reichte. Elektrisiert sei er nach dem Lesen des Berichts gewesen, sagt Schumacher. „Ich bin im Kalten Krieg groß geworden. In meinem Abiturjahrgang waren sich lange alle einig: 'In diese Welt kann man kein Kind setzen...'. Und dann gibt es da einen Mann, der ganz konkret einen Atomkrieg verhindert hat, aber nie dafür gewürdigt wurde?“ Die atomare Bedrohung war für Schumacher auch deshalb so real, weil sein Elternhaus direkt neben der Gutehoffnungshütte lag, dem Weltkonzern, der später in MAN aufging. Schumacher ist überzeugt, „dass eine der russischen Atomraketen auf dieses Werk im Herzen des Ruhrgebietes gerichtet war. Das hätte das Ende bedeutet, für mich und meine Familie, aber vielleicht auch für den Rest der Welt.“

So fasste Schumacher den Plan, Petrow persönlich für seine stille Heldentat zu danken. „Nach zwei Wochen hatten wir endlich seine Postadresse, aber auch nichts anderes, weder Fax- noch Telefonnummer.“ So flog Schumacher Anfang 1999 kurzerhand nach Russland, gemeinsam mit einem Jugendfreund, der im Gegensatz zu ihm selbst wenigstens ein paar Brocken Russisch sprechen konnte. „Der Flug hat nur um die hundert Mark gekostet, das war es uns allemal wert.“

Petrow war völlig verdattert, aber bat die beiden weit gereisten Gäste sofort auf einen Kaffee in seine Küche, wo sie sich auf Russisch, Deutsch und Englisch und mit Händen und Füßen verständigten. Die Einladung zu einem Gegenbesuch nahm Petrow gern an. Im April 1999 kam er für zwei Wochen nach Deutschland, gemeinsam besuchte das Trio unter anderem den Kölner Dom und den Gasometer in Oberhausen, zudem sprach Petrow vor Schülern eines Gymnasiums. Einige Fernsehsender berichteten. Andere nicht. Bei RTL sei stattdessen „ein Bericht über einen mobilen Pudelfriseur“ gelaufen, grummelt Schumacher noch heute.

Damit war Petrows Geschichte in der Welt. 2006 wurde er am UN-Sitz in New York ausgezeichnet, 2012 erhielt er den deutschen Medienpreis und 2013 die Friedensauszeichnung Dresden-Preis. „Heute-Journal“-Moderator Claus Kleber sagte damals in seiner Laudatio: „Gottlob saß an diesem denkwürdigen Tag im September 1983 auf dem Stuhl des verantwortlichen Offiziers ein Mensch mit Hirn und mit Herz und mit Mut und mit einem ordentlichen Schuss russischer Volksweisheiten. Sprichwörtern, die zum Beispiel sagen, was ein weiser Mann tut, wenn alle Hähne anfangen zu krähen. Dann denkt er nämlich noch mal nach.“ Kleber betonte: „Wenn er seinen Eindruck damals nach oben gegeben hätte, dann wäre dieser Eindruck bei einem greisen misstrauischen alten Mann gelandet, geprägt vom deutschen Überraschungsangriff auf Russland im Juni 1941. Dann hätte Juri Andropow (der damalige sowjetische Staats- und Parteichef) entscheiden müssen. Bei Stanislaw Petrow war die Welt in besseren Händen.“

Vor einem neuen Atomkrieg hat Schumacher keine Angst

Petrow habe eine Botschaft gehabt, sagt Schumacher: „So viel Arbeit einem Maschinen auch erleichtern - wichtige Entscheidungen darf man ihnen nicht anvertrauen!“ Vom Tod Petrows erfuhrt Schumacher erst zufällig bei seinem jährlichen Geburtstagsanruf am 7. September. Da habe ihm der Sohn vom Tod des Vaters in Mai berichtet. Petrows Frau Raissa war bereits 1997 an Krebs gestorben - ohne je von der Heldentat ihres Mannes zu erfahren. Petrow hielt sich an das Geheimhaltungsgebot, bis sein Vorgesetzter Generaloberst Juri Wotinzew den Vorfall 1998 publik machte. Als Held sah sich der Mann, den amerikanische Reporter „Stan, the Man“ tauften, nie. Er habe nur seinen Job gemacht, sagte er stets.

Das Andenken an Petrow hält Schumacher auf seiner Webseite lebendig: Dort sind zahlreiche Zeitungsartikel und TV-Beiträge zum Thema gesammelt. Vor einem neuen Atomkrieg hat er keine Angst: „Ich bin optimistisch, dass auch Donald Trump, Wladimir Putin und Kim Jong Un verstanden haben, dass es dazu nie kommen darf.“ Dafür, dass er selbst sein privates Glück mit drei Kindern und acht Enkeln genießen kann, sei er Petrow dankbar bis zu seinem eigenen Tod, sagt Schumacher. Ehrensache, dass er für seinen im Frühjahr verstorbenen Freund eine Todesanzeige in der Lokalzeitung schaltete. Petrow wünscht er noch den Friedensnobelpreis: „An jedem anderen Preisträger hat irgendjemand etwas zu nörgeln. Petrow aber ist eine echte Identifikationsfigur, der Millionen Leben gerettet hat - von Menschen jeden Alters, jeder Nationalität und Religion.“

Für das Preisgeld hat Schumacher schon einen guten Verwendungszweck ausgemacht: „Das könnte an die UN-Friedensdörfer gehen, wo kriegsversehrte Kinder aus aller Welt geheilt werden. Das wäre ganz in Petrows Sinne.“ Die Laudatio könne Michail Gorbatschow halten, schwebt Petrows größtem Fan vor, oder Barack Obama. Und wenn es sein müsste, würde der patente Schumacher wohl auch selbst ans Mikrofon treten.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde ursprünglich im Jahr 2017 bei rp-online.de veröffentlicht. Da er weiter aktuell ist, bieten wir ihn noch einmal zum Lesen an.

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