Gastbeitrag Der Brexit fiel nicht vom Himmel

Der britische Publizist Quentin Peel macht die langjährige EU-Aversion insbesondere der Engländer für den Austrittsbeschluss verantwortlich. Hinzu kam die Furcht vor unkontrollierter Zuwanderung vom Kontinent.

Gastbeitrag: Der Brexit fiel nicht vom Himmel
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Der Abstimmungsschock der Briten für den Brexit hallt noch immer auf den Finanzmärkten, in den Fluren in Westminster und den Amtszimmern der Europäischen Union nach. Das komplette Ausmaß des Schadens für alle Betroffenen wird erst langsam ersichtlich.

Für den Rest der Welt ist es schwer zu verstehen, warum die Wähler des Vereinigten Königreichs eine Entscheidung getroffen haben, die politisch und wirtschaftlich offenbar so schädlich ist und nur derart wenige Vorteile mit sich bringt. Sowohl die Integrität des Vereinigten Königreichs als auch die Kohärenz der EU werden durch diesen emotionalen Protest bedroht.

Der Slogan der Brexit-Kampagne lautete "bring back control" (Kontrolle zurückgewinnen). Dabei wurde der Hauptwunsch der Wähler - Kontrolle über die Einwanderung - geschickt mit der Frage der Wiederherstellung der nationalen Souveränität über die Gesetzgebung und Ausgaben verknüpft. Es war eine Gegenreaktion auf die Einwanderung, die ausschlaggebend für die Abstimmung war, verpackt in der Rhetorik der nationalen Souveränität.

Bei den wichtigsten Vertretern der Kampagne handelte es sich um eine kleine Gruppe eher englischer als britischer Nationalisten, überwiegend Konservative, die die EU seit jeher als grundlegende Bedrohung für ihre nationale Demokratie und die Souveränität des Parlaments in Westminster empfinden. Es gelang ihnen, eine weit größere Bewegung zu mobilisieren, einschließlich zahlreicher Wähler, die traditionell für die Labour Party stimmen. Die protestierten gegen "unkontrollierte" Einwanderung und das noch vagere Gefühl, von der modernen Gesellschaft zurückgelassen worden zu sein.

David Cameron, der sich als Premierminister rasant auf einen unrühmlichen Ruhestand zubewegt, hatte die Abstimmung in einem verzweifelten Versuch angekündigt, die Einheit seiner gespaltenen Partei, der Conservative Party, zu bewahren. Anstatt Wunden zu heilen, wurde die Kampagne zu einem blutigen Bürgerkrieg, einem polarisierenden und emotionalen Wettstreit zwischen verschiedenen Vorstellungen von nationaler Identität.

Die eine Seite wollte die Uhren zurückdrehen in eine Zeit, in der das Vereinigte Königreich noch eine globale Rolle innehatte. Die andere Seite versuchte - ohne großen Enthusiasmus - zu argumentieren, dass sich das Land nicht von seinen europäischen Partnern und ihren Märkten trennen könnte. Nationalistische Nostalgie und halbherziger Pragmatismus standen sich gegenüber. Dabei nutzte die eine Seite die Angst vor Zuwanderern und die andere Seite die Angst vor wirtschaftlichem Scheitern aus. Keine der beiden Seiten hatte eine Botschaft der Hoffnung oder des Enthusiasmus.

Die Abstimmung hat das Land bitter gespalten zurückgelassen, mit nur einem knappen Vorsprung der 17 Millionen Brexit-Befürworter vor den 16 Millionen, die in der EU bleiben wollten. Die Jungen stimmten für den Verbleib, die Alten für den Austritt. Die englischen Provinzen wollten die EU verlassen, die wohlhabenderen Städte sprachen sich klar für die EU aus. England und Wales stimmten für den Austritt, während Schottland und Nordirland für den Verbleib stimmten.

Es war einerseits ein Protestvotum derselben demografischen Gruppe, die Donald Trump in den US-Präsidentschaftswahlen unterstützt; andererseits war es Ausdruck eines besonderen und seit Langem bestehenden britischen Misstrauens gegenüber dem gesamten europäischen Projekt. Briten im Allgemeinen, und Engländer im Besonderen, haben sich nie wohlgefühlt bei diesem Vorhaben, das sie als eine kontinentale Verschwörung empfanden, die zwischen Paris und Berlin ausgeheckt wurde.

Erst als es Margaret Thatcher 1984 mit freundlicher Genehmigung von François Mitterrand und Helmut Kohl geschafft hatte, den sogenannten "Britenrabatt" auszuhandeln, wurde ein kurzer Moment echt britischen Engagements im wiederbelebten europäischen Projekt ausgerufen: die Einführung des Binnenmarktes. Lord Cockfield, der eigentlich von Thatcher nach Brüssel geschickt worden war, um ein kritisches Auge auf die Pläne der Europäer zu werfen, wurde stattdessen zum Architekten eines riesigen Schritts in Richtung mehr europäische Integration.

Der nächste Schritt allerdings, die im Vertrag von Maastricht vereinbarte Einführung des Euro als gemeinsame Währung, ging für die britischen Gemüter dann doch zu weit. London reagierte daher unter anderem mit einer umso enthusiastischeren Unterstützung der EU-Erweiterung - schließlich ging man im Vereinigten Königreich davon aus, dass eine noch stärker erweiterte Union schwächer und weniger integriert sei.

Ironischerweise waren es aber gerade diese beiden britischen Prioritäten - der Binnenmarkt und die EU-Erweiterung -, die die euroskeptischen Gegenreaktionen in Großbritannien befeuerten. Der Binnenmarkt bedeutete schließlich viel mehr Mehrheitsbeschlüsse und eine viel stärkere Einmischung in gut gehütete nationale Regelungen und Vorschriften. Außerdem brachte er die Freizügigkeit der Arbeitnehmer mit sich. Als im Zuge der EU-Erweiterung der Arbeitsmarkt für Millionen weiterer Osteuropäer geöffnet wurde, sorgte dies für einiges Missbehagen in der britischen Bevölkerung.

Dass so viele Briten für den Brexit gestimmt haben, um die Einwanderung von EU-Bürgern nach Großbritannien zu stoppen, führt nun zu dem Problem, dass es sehr schwierig sein wird, den heikelsten Deal überhaupt für die Zukunft des Vereinigten Königreichs einzufädeln: nämlich, so wie Norwegen, weiterhin im Binnenmarkt zu bleiben. Doch dafür müssten die Freizügigkeit hingenommen und weiterhin Beiträge an den EU-Haushalt entrichtet werden. Beides haben die Wähler jedoch ganz offensichtlich abgelehnt.

Wie hoch stehen die Chancen dafür, die Abstimmung für den Brexit vollkommen rückgängig zu machen? Vor allem unter jüngeren Wählern ist eine Gegenbewegung entstanden gegen das, was von ihnen als Staatsstreich älterer weißer englischer Männer empfunden wird.

Eine Option bestünde darin, das Votum der Briten durch eine Parlamentsabstimmung zu kippen. In Westminster gibt es eine klare Mehrheit zugunsten eines Verbleibs in der EU. Eine Alternative hierzu wäre ein zweites Referendum, etwa zu den Details der zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU.

Das drohende schottische Unabhängigkeitsreferendum, das wie ein Damoklesschwert über dem englischen Establishment schwebt, könnte bei diesem noch zu einem Meinungsumschwung führen. Den gleichen Effekt hätte das Wiederaufflackern gewalttätiger Konfrontationen in Nordirland, hervorgerufen durch die Wiedererrichtung einer echten Grenze zur Republik Irland.

Gewissheit gibt es derzeit auf keiner Seite. "Brexit heißt Brexit", so Theresa May, die gegenwärtig die größten Aussichten auf das Amt der nächsten britischen Premierministerin hat. Aber wir wissen immer noch nicht, was Brexit wirklich heißt.

(RP)
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