Berlin Der Chauffeur der deutschen Politik

Berlin · Die Limousinen der Bundestags-Fahrbereitschaft sind mitten im Regierungsviertel der Ort, an denen Spitzenpolitiker in der Hetze von Termin zu Termin auf das wirkliche Leben treffen. Ein Fahrer weiß Erstaunliches von dieser besonderen Schnittstelle zu erzählen.

 Matthias Bornemann vor seiner Limousine.

Matthias Bornemann vor seiner Limousine.

Foto: Marco Urban

Ganz gleich, wie heiß die Debatte gerade im Plenarsaal war oder wie unterkühlt die vertraulichen Gespräche in der Koalition: Wenn der Politiker im Parlamentsviertel in die Limousine vor dem Eingang steigt, herrschen immer 21 Grad. Ob Hochsommer oder Frostwinter. Weil die meisten Menschen das als angenehm empfinden, ist die 21 auf der Temperaturanzeige Standard für jeden Limousinen-Service. "Das lernt man in der Chauffeursschule, dass die meisten Menschen 21 Grad als angenehm empfinden", berichtet Matthias Bornemann (56). Er fährt die Abgeordneten seit über einem Jahr. Vertraulichkeit ist sein Geschäft. Denn er erlebt den Alltag der Politik aus einer ungewöhnlichen Perspektive.

Wie dicht Bornemann manchmal sogar am Puls der Weltpolitik dran ist, merkt er schon in den ersten Sekunden einer Fahrt. "Je komplizierter und gefährlicher die Situation ist, desto angespannter steigen sie in meinen Wagen." Der Chauffeur als Seismograph von Weltkrisen. Denn viele Abgeordnete schätzten es, auf dem Weg zum nächsten Termin ein wenig mit einem ganz gewöhnlichen Menschen über das reden zu können, womit sie sich gerade besonders intensiv beschäftigen.

Und wie sind sie nun so, unsere Politiker, wenn keine Kamera auf sie gerichtet ist? "Erwarten Sie von mir bitte keine Namen, denn natürlich beruht unser Geschäft auf Diskretion", unterstreicht Bornemann. Nur so viel: Die allermeisten seien absolut in Ordnung. Wie viele? "90 Prozent, vielleicht auch nur 85 Prozent, aber die auf jeden Fall", lautet seine Festlegung. Das reiche quer durch alle Parteien, "vielleicht sind die Linken noch am nettesten". Vielleicht. Oft hänge das auch von der Tagesform ab.

Es gibt Fahrten, da bekommt Bornemann den Eindruck, dass Politiker auch bei ihm schon mal ausprobieren, wie Argumente ankommen, wie überzeugend neu formulierte Begründungen sind. So wird ein Chauffeur zum Testfahrer für den großen politischen Schlagabtausch.

Mag der Fahrer für den Politiker auch zunächst ein anonymer Bürger sein, der Fahrgast ist es für den Chauffeur nicht. Denn sobald Bornemann erfährt, wer sein nächster Fahrgast ist, holt er den "Kürschner" heraus, das Standard-Taschenbüchlein mit den Bildern und Lebensläufen aller Abgeordneten. Er prägt sich das Gesicht ein und die Vita mit allen Funktionen. "Ich mag das, wenn ein Politiker vor seiner Karriere schon etwas anderes im Leben geleistet hat", stellt Bornemann klar.

Davon kann auch er selbst ein Lied singen. Gelernter Groß- und Außenhandelskaufmann, Angestellter bei verschiedenen Firmen, schließlich Leiter des elterlichen Medizin-Technikbetriebes. Dort wurde er Opfer eines brutalen Verdrängungswettbewerbes, musste die Pleite verkraften, verschiedene vergebliche Versuche durchleben, bis der gescheiterte Chef auf Hartz-IV-Niveau angekommen war. Ein Freund mit einem Sicherheitsunternehmen im Nahen Osten brachte ihn auf die Idee, es hinterm Steuer zu versuchen. "Gute Chauffeure finden immer Arbeit", lautete dessen Empfehlung. Das fand auch seine Betreuerin in der Arbeitsagentur, finanzierte eine Chauffeursausbildung, die Bornemann mit Bravour absolvierte. Er hätte sofort bei seinem Freund in Bagdad einsteigen können. Doch vor einem Umfeld, in dem Limousinen gepanzert sein müssen, schreckte er zurück, zumal einer seiner Söhne gerade nach Afghanistan zog. "Das muss ich nicht auch noch haben", lautete der Befund seiner Selbstanalyse.

So wurde die Firma Rocvin sein neuer Arbeitgeber, ehemalige Bus- und Taxifahrer seine Kollegen. In die Schlagzeilen kam der Betrieb vor knapp einem Jahr, weil er angeblich vor der Insolvenz gestanden und Fahrer mies bezahlt haben soll. Das sei nur ein "Schutzschirmverfahren" gewesen, betont Rocvin-Geschäftsführer Torsten Diehl. Rein vorsorglich, um einen drohenden Liquiditätsengpass zu überbrücken. Wie ausgerechnet eine Firma im Dienste des Bundestages mit einer imposanten Fahrzeugflotte dort hineingeraten konnte? Weil Union und SPD unerwartet lange brauchten, um zu einer gemeinsamen Koalition zu finden. Das bedeutete, dass der Parlamentsbetrieb viel länger ruhte als geplant. Aber wo keine Sitzungswoche stattfindet, wird auch keine Fahrbereitschaft benötigt. Unerwartet fielen drei Arbeitswochen aus - und so fehlten plötzlich 15 Prozent Umsatz.

Diehl wollte die Arbeitsplätze trotzdem erhalten. Inzwischen hat er sie sogar von 185 auf 225 Mitarbeiter ausgebaut. Aber die müssen auch immer wieder Abstriche machen. So sehr Bornemann seinen Job auch liebt, "leisten" kann er ihn sich nur, weil seine Freundin für den gemeinsamen Haushalt mit verdient. Neun Euro gibt es pro Stunde. Garantiert wird ihm die Beschäftigung über eine Mindestanzahl von 1400 Stunden. Pro Jahr. Aber wenn der Bundestag in die Wahlkreiswochen und vor allem in die Sommerpause geht, läuft in Berlin nicht viel. Auch nicht für die Fahrer. Auf ganze 30 Stunden kam Bornemann im August. Andere hatten noch weniger. 30 Mal neun Euro - es gibt schönere finanzielle Situationen im Sommer.

Haben Abgeordnete also laue Jobs? Auf diese These reagiert der Fahrer allergisch. "Was die leisten, das sind richtige Manager-Jobs." Vor seiner Zeit bei der Fahrbereitschaft habe er auch Vorurteile über "die faulen Hunde in Berlin" gepflegt. Inzwischen ist er derart vom Gegenteil überzeugt, dass er meint, alle Schüler müssten vor dem ersten Wählen mal drei Tage nach Berlin und sich angucken, wie die Politik funktioniert. "Kaum einer sieht doch, was ich sehe: Was die hier leisten und auf wie viel die verzichten, wenn sie etwa immer wieder ihre eigene Familie nicht sehen können", lautet seine Polit-Stellenbeschreibung. Und deshalb ist er auch von der absoluten Notwendigkeit der Fahrbereitschaft überzeugt. "Wenn es uns nicht gäbe, hätten die doch einen wahnsinnigen Zeitverlust."

Und er hat Respekt vor denen, die das politische Geschäft voranbringen. Seine Erkenntnisse als technische Konstruktion: "Als Laie denkt man doch, dass man einfach nur an einer Schraube drehen müsste, um alles zum Guten zu bringen. Aber hier lernt man, dass sich 43 andere Schrauben mit drehen, und zwar selten in die gewünschte Richtung. Und das muss man immer mit berücksichtigen, bei jedem Projekt."

"Erstaunlich" findet der Fahrer, wie eifersüchtig die Abgeordneten immer wieder darauf achteten, welche Einladungen und Zugänge ihre Kollegen bekommen. Es gibt von außen kaum durchschaubare Hierarchien, wer in welchem Arbeitskreis oder Ausschuss welches Gebiet betreuen darf, wer Sprecher und stellvertretender Sprecher, wer Berichterstatter oder gar Obmann werden kann - und wer plötzlich auch in Berlin ein gefragter Gesprächspartner bis in höchste Kreise hinein wird, wenn er in seiner Heimat an eine regionale Schlüsselstellung gelangt.

Die Abgeordneten sind nach den Erfahrungen von Bornemann auf ihren Politikfeldern meistens sehr gut im Film und wissen auf den kurzen Fahrten oft verblüffende Argumente zu bringen, von denen die breite Öffentlichkeit meistens keine Ahnung habe. "Das passiert mir oft, dass ich morgens mit einer bestimmten Meinung in meinen Wagen steige und abends mit einer völlig anderen wieder herauskomme", gibt der Fahrer unumwunden zu.

Nur in einem ist er eisern. Aufgrund seiner eigenen Umzugs- und Schulerfahrungen mit fünf Kindern von drei Frauen sieht er es als seine Mission an, die Politiker davon zu überzeugen, dass die Bildungspolitik mehr Bundesangelegenheit werden muss. "Wie kann denn das allerwichtigste Ding für Deutschlands Zukunft Sache der Länder sein, die damit so unterschiedlich umgehen, dass jede Familie nach einem Umzug von Land zu Land riesige Probleme bekommt und viele Kinder einfach überfordert sind?", fragt Bornemann. "Das ist das, was ich rein bringe in die Autos. Immer wieder. Und 90 Prozent stimmen mir im Prinzip auch zu." Dabei klingt er fast schon selbst wie ein Politiker. Er schaut auf die Uhr. Der nächste Termin rückt näher. Schnell noch die Vita seines Fahrgastes studieren - und schon freut er sich auf das nächste Gespräch.

Bei garantiert 21 Grad.

(may-)
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