Kolumne: Mit Verlaub! Der Commissario und die deutsche TV-Tristesse

Die Familie von Donna Leons venezianischem Commissario Brunetti ist harmonisch. Die Szenen in deutschen TV-Krimis kommen dagegen oft trostlos daher. Ein gewolltes Zerrbild?

Die Liebe zu Italien haben wir Deutschen in unserer Keimbahn. Der Befund stammt von dem früheren Bundesinnenminister Otto Schily, der erstmals als Student durch den "Stiefel" reiste und heute als 82-Jähriger sein Haus in der Toskana genießt. Ich gehöre seit Kindestagen auch zu den Italien-Infizierten, leider ohne eigene Hausnummer in dem wunderschönen Land. Mein Interesse gilt allen Berichten über Land und Leute, Landschaften und Städte Italiens - auch solchen, die die Grenze zum Capri- und Rote-Sonne-Kitsch streifen.

Nun wird's gesellschaftspolitisch: Sehe ich Verfilmungen von Donna-Leon-Kriminalromanen, freue ich mich nicht allein am Anblick venezianischer Fassaden, Plätze, Gassen und Kanäle, sondern ebenso am Familienleben der Brunettis: an Vater Guido, dem stilvollen Commissario, seiner schönklugen Ehefrau Paola und den heranwachsenden Kindern Raffaele und Chiara. Letztere machen ihren Eltern auch mal Kummer, aber nie schlimme Probleme: Familie endlich mal als Normal- und nicht als Störfall im Fernsehen. Die Brunettis stehen für eine intakte Welt des Zusammenhalts von Vater, Mutter, Kindern vor morbider, unsterblicher Kulisse. Das ist erbaulich.

Schnitt! Blick auf die "Tatort"-Streifen. Ins Auge stechen nicht selten schlampig gekleidete Ermittler mit Kodderschnauze und kruden Biografien. Täusche ich mich, oder gibt es in diesen Serien tatsächlich keine halbwegs harmonischen Vater-Mutter-Kind-Szenen mitten aus dem Leben? Wo ist ein deutscher Guido Brunetti, der abends bei Pasta und einem Glas Rotwein mit seiner Frau den Tag Revue passieren lässt, ohne dass Sohn und Tochter als pubertierende Rüpel ihren Eltern auf die Nerven gehen?

Ich höre schon den mitleidvollen Einwand: "Sie alter Romantiker!" Die Brunettis aus Venedig - das sei doch Familienidylle im Quadrat vor sonnenüberflutetem Canal-Grande-Schwulst; die "Tatort"-Kommissarinnen und Kommissare dagegen - die stünden für das wahre Vereinzelungs-Leben, für deutschen TV-Realismus mit seiner Spülstein-Tristesse, seinen typischerweise kaputten oder skurrilen Familienverhältnissen.

Ich behaupte, dass hier ein Zerrbild deutschen Lebens gekleckst wird. Mit kaum versteckter gesellschaftspolitischer Botschaft. Abscheulich, die Trostlosigkeit mancher Behausungen mit den bis auf ein paar Bierdosen leeren Kühlschränken, die Beziehungskrisen, die nicht vorhandenen oder nur selten zu Besuch kommenden Sprösslinge, die Menschen mit Macken und die albernen Alten auf dem Jugendtrip. Deutscher TV-Realismus. Ich fürchte: so gewollt.

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(RP)
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