Paris Der französische Patient

Paris · Ein gutes halbes Jahr nach ihrer historischen Niederlage kämpfen Frankreichs Sozialisten ums Überleben. Für die Parteispitze ist keine Führungspersönlichkeit in Sicht.

Die Nummer zehn an der Pariser Rue de Solférino ist eine stadtbekannte Adresse. In dem schicken Palais im siebten Stadtbezirk residierten jahrzehntelang Frankreichs Sozialisten. Eine Partei, ein Gebäude, ein Präsident. Das galt zumindest in den Anfangsjahren. 1981 feierte der Parti socialiste (PS) im "Solfé" den Wahlsieg von François Mitterrand. Gut 30 Jahre später ließ François Hollande, der zweite sozialistische Präsident der Fünften Republik, nach seiner Wahl die Parteizentrale beben. Die Sozialisten waren mit der Mehrheit in Senat und Nationalversammlung auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Was damals noch keiner wusste: Auf den hohen Aufstieg folgte der tiefe Fall. Im September muss die Partei ihre schicke Zentrale räumen, weil sie sie nicht mehr bezahlen kann. Das Symbol des PS, eine Faust mit roter Rose, wirkt im Jahr 2018 wie Hohn. Denn die sozialistische Rose hat längst ihre Blätter verloren.

Hinter der Partei liegt ein "annus horribilis", in dem der sozialistische Kandidat Benoît Hamon nicht nur die Präsidentschaftswahl in der ersten Runde mit sechs Prozent kläglich verlor. Auch in der Nationalversammlung schrumpfte die Fraktion der Sozialisten von mehr als 200 auf 31 Abgeordnete. Die Folge: Das Budget der ältesten französischen Partei beträgt statt 25 nur noch acht Millionen Euro. Die Parteizentrale wurde deshalb an eine Immobilienagentur verkauft. An der historischen Adresse wird ab Oktober Geld gemacht statt Politik. Rund 60 Mitarbeiter müssen gehen, weil die Partei sie nicht mehr bezahlen kann.

Wohin die Parteizentrale zieht, ist noch unklar. Ebenso, wer ihr neuer Chef wird. Der Senator Rachid Temal führt die Geschäfte, seit Jean-Christophe Cambadélis den Vorsitz abgab. Ein Nachfolger von Format, der die Partei mit Führungsstärke und Charisma wieder nach oben bringen könnte, ist nicht in Sicht. Wochenlang konzentrierten sich die Hoffnungen auf die frühere Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem, doch die sagte Anfang Januar ab. "Es gibt andere Arten, sich nützlich zu machen", sagte die 40-Jährige. Die Wunschkandidatin der Mehrheit der Parteimitglieder zieht es vor, beim Verlag Fayard einzusteigen. Für den PS ist es nicht die erste Krise. Schon 1969 hatte die Partei bei fünf Prozent gelegen. Doch Mitterrand krempelte die Sozialisten damals um und gewann zwölf Jahre später die Präsidentschaftswahl.

An Kandidaten für den Parteivorsitz mangelt es auch 2018 nicht: Neben dem früheren Landwirtschaftsminister Stéphane Le Foll und Fraktionschef Olivier Faure warfen auch der Abgeordnete Luc Carvounas und der Europaparlamentarier Emmanuel Maurel ihren Hut in den Ring. Schon jetzt zeichnet sich für die Wahl im April ein Bruderkrieg ab, wie ihn die Sozialisten schon oft erlebt haben. Als Favorit gilt Faure, der die Unterstützung von Vallaud-Belkacem und Ex-Parteichefin Martine Aubry hat. Doch selbst der "neue Mann der Synthese" scheint keine große Lust auf die neue Aufgabe zu haben. "Für mich wäre es bequemer, Fraktionschef zu bleiben. Das wäre weniger anstrengend. Aber ich will diese Maschine wieder in Gang bringen", sagte er dem Wochenmagazin "Point". Aus der Maschine, von der Faure vollmundig spricht, ist allerdings ein kleines Maschinchen geworden: Auch wenn die Parteiführung offiziell noch von rund 100.000 Mitgliedern spricht, sind es weniger als 20.000 Aktive.

Die Überlebenden der Wahlkatastrophen umwirbt auch der ehemalige Regierungssprecher Le Foll, der wie Faure den sozialdemokratischen Flügel vertritt. Der Ex-Minister gehörte zu den engsten Vertrauten Hollandes, was seine Wahl schwierig macht. Denn der Name Hollande ist mit den bittersten Niederlagen des PS verbunden. Der Präsident, der die Finanzwelt bekämpfen wollte und dann eine sozialliberale Wende vollzog, war am Ende seiner Amtszeit so unbeliebt wie keiner seiner Vorgänger. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr wechselten die traditionellen PS-Wähler deshalb entweder in Scharen zu Hollandes früherem Wirtschaftsminister Emmanuel Macron oder zum Europaskeptiker Jean-Luc Mélenchon.

In der Nationalversammlung hat Mélenchons "La France Insoumise" ("Das aufmüpfige Frankreich") die Rolle der linken Oppositionspartei übernommen. "Die Sozialisten sind dabei, das Zepter der Opposition ebenso zu verlieren wie das der Linken", heißt es in einer Analyse für die der Partei nahestehende Stiftung Jean Jaurès. Zu sehr schwankt der PS zwischen Kritik und Zusammenarbeit mit Macron, der bis vor gut einem Jahr noch selbst einer sozialistischen Regierung angehörte.

Doch der politische Ziehsohn Hollandes hatte keine Skrupel, mit seinem sozialliberalen Programm die einstige Regierungspartei zur Explosion zu bringen. Außerdem warb er ohne Scheu sozialistische Spitzenpolitiker ab. Die prominentesten PS-Mitglieder, die die Seite wechselten, sind Innenminister Gérard Collomb, Staatssekretär Olivier Dussopt und Ex-Regierungschef Manuel Valls. Das Ergebnis: eine sozialistische Partei, die nur noch einstellige Ergebnisse schafft. So wie bei zwei Nachwahlen zur Nationalversammlung Ende Januar, wo sie zwischen drei und sieben Prozent errang. "Diese sozialistische Partei ist tot", sagte Valls nach der Präsidentschaftswahl. Andere sprechen von einem Koma mit der eher unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass der Patient wieder aufwacht.

(RP)
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