Analyse Der Irrtum vom Sieg der Demokratie

Düsseldorf · Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus schien die Demokratie als endgültiger Gewinner aus dem Kampf der Ideologien hervorgegangen zu sein. Doch jetzt lässt sich ein herber Bedeutungsverlust beobachten – selbst in gefestigten Systemen.

Der Irrtum vom Sieg der Demokratie
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Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus schien die Demokratie als endgültiger Gewinner aus dem Kampf der Ideologien hervorgegangen zu sein. Doch jetzt lässt sich ein herber Bedeutungsverlust beobachten — selbst in gefestigten Systemen.

Unsere Geschichte ist auch eine der Irrtümer. Einer der größten handelt davon, dass die Menschheit, nachdem sie allerlei Eseleien ausprobiert hat, zur Einsicht gelangt: Dies und kein anderes System ist das beste, und deshalb bleiben wir in Zukunft dabei.

Der Letzte, der sich hinreißen ließ, diese wackelige These unter Fanfarenklängen wieder unters Volk zu bringen, war Francis Fukuyama. Überwältigt vom vollständigen Kollaps des Sozialismus in der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Pakts, bejubelte der amerikanische Politologe vor rund einem Vierteljahrhundert das "Ende der Geschichte": Aus dem Krieg der Ideologien seien liberale Demokratie und Marktwirtschaft fulminant als Sieger hervorgegangen - letztgültig und fürderhin unangreifbar.

Aber die Geschichte war, wie wir heute wissen, keineswegs zu Ende, und der Zweifel, sie könnte womöglich ein böses Ende nehmen, allenfalls für kurze Zeit verflogen: Mit den schönen Bildern der auf der Berliner Mauer tanzenden Menschen schloss ein ansonsten schreckliches 20. Jahrhundert scheinbar versöhnlich. Doch das 21. begann mit einem großen Knall, der bis heute nachhallt und der demokratische Standards auf der ganzen Welt in einem Maße erschüttert hat, wie wir es noch immer nicht ganz begriffen haben.

Seither ist es Schlag auf Schlag gegangen.

Der Irrtum vom Sieg der Demokratie
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Globalisierung, Bankenkrise, Finanzkrise, Flüchtlingskrise. Der demokratische Aufbruch im Arabischen Frühling - niedergeknüppelt, niedergebombt. Blutiger Terror in westeuropäischen Metropolen, Anschläge auf ein Leben, wie es nur in offenen, demokratischen Gesellschaften pulsiert. In diesen Wirren ging Fukuyamas Verheißung verloren, das Gefühl des Triumphes verflog, der Glaube in Institutionen erodierte, die Angst kehrte zurück in die Herzen. Und die Wut.

Demokratie unter Druck: Weniger als ein Fünftel der Westeuropäer traut aktuell noch politischen Parteien, nur etwa ein Drittel seinen Parlamenten und Regierungen. In Polen setzt sich die Regierung über das Verfassungsgericht hinweg, nicht weit davon entfernt vollzieht sich die Putinisierung Ungarns, und in der Türkei wird die kurze Geschichte von Demokratie und Rechtsstaat in atemberaubendem Tempo zurückgedreht.

Selbst in Demokratien wie Australien, Großbritannien, den Niederlanden, Schweden oder den USA geht die Zahl derer dramatisch zurück, die sagen, in einer Demokratie zu leben, sei für sie unerlässlich. Unter den in den 1980er Jahren Geborenen findet das nur noch jeder Vierte, wie eine neue Harvard-Studie belegt. Bei den Älteren ist der Anteil deutlich höher: Mehr als die Hälfte nennt Demokratie essenziell. Indes glaubt inzwischen einer von sechs US-Amerikanern, dass ein Militärregime seine Sache gut machen würde. 1995 war nur einer von 16 dieser Auffassung. Besonders krass: Mehr als ein Viertel der jüngeren US-Bürger findet freie Wahlen nicht mehr wichtig.

Politik in Hinterzimmern ausgekungelt?

Dass sich Bürger in wachsender Zahl nicht mehr ernst genommen fühlen von Politikern und Wirtschaftsbossen, ist ernst zu nehmen. Schon zwei große Koalitionen im noch jungen Jahrhundert verstärken auch hierzulande das Misstrauen, Politik werde in Hinterzimmern ausgekungelt und vorbei an den Leuten gemacht.

Nachdenklicher stimmt die Beobachtung, dass sich die etablierten Parteien bisher als unfähig erwiesen haben, auf den größten Vertrauensverlust ihrer Wähler seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu reagieren. Dabei verweisen Forscher seit Jahren auf eine Spaltung der Gesellschaft, die nicht mehr entlang des klassischen Links-rechts-Schemas, sondern zwischen oben und unten verläuft. Und wo immer sich solche Lücken auftun, dauert es nicht lange, bis Populisten freudig hineinstoßen.

Populismus kennt viele Ausprägungen, folgt aber stets einer Grundthese: Das politische Establishment repräsentiere nicht das Volk - auch wenn es vom Volk in freier, gleicher und geheimer Wahl bestimmt wurde. Damit zielt die populistische Grundthese auf das Herz der Demokratie: Sie zieht die Legitimation von Herrschaft und ihre Repräsentanten in Zweifel. Dass es so weit gekommen ist, liegt nicht allein an den großen Vereinfachern.

Fakten nicht mehr im Mittelpunkt

Entsprechend locker setzt sich der Populismus über Regeln des demokratischen Stils hinweg, die jahrzehntelang die politische Debattenkultur geprägt haben. Willkommen im postfaktischen Zeitalter, das im Englischen "post-truth-era" heißt und nicht zufällig kürzlich vom Verlag der ehrwürdigen "Oxford Dictionaries" zum internationalen Wort des Jahres 2016 gewählt wurde!

Das Adjektiv postfaktisch beschreibt ein Phänomen, das auf der ganzen Welt aufpoppt: Überzeugungen werden weniger von objektiven Tatsachen beeinflusst, sondern zunehmend durch das Hervorrufen von Gefühlen. "Angetrieben von dem Aufstieg der sozialen Medien als Nachrichtenquelle und einem wachsenden Misstrauen gegenüber Fakten, die vom Establishment angeboten werden", habe das Konzept des Postfaktischen an Boden gewonnen, so Oxford-Dictionaries-Chef Casper Grathwohl.

Wenn Fakten nicht mehr im Mittelpunkt stehen, wenn unverhohlen gelogen werden darf, wenn zum entscheidenden Kriterium für politische Erklärungsmodelle wird, dass sie in der emotionalen Welt von Wählern funktionieren und nicht in der wirklichen, wenn Rücksichtslosigkeit zum neuen Spaßfaktor wird, dann muss der Verdruss im Land groß sein. Dann könnte man als Demokrat anfangen, sich Sorgen zu machen. Es sei denn, man hat Nerven wie James Buchanan (1791-1868), demokratischer Politiker und 15. Präsident der USA, der einmal knochentrocken bemerkte: "Ich liebe den Lärm der Demokratie." Es ist wahr: Demokratie muss auch das aushalten können.

Gegenkonzept? Null, nicht nötig.

Wie auch immer: Nach Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte hat es nicht einmal einen Wimpernschlag der Geschichte gedauert, bis sich neue Unübersichtlichkeit breitmachte. Gerade passiert nicht weniger, als dass wahrheitsunabhängige und tatsachenentkoppelte Politik salonfähig wird. Es reicht aus, "die da oben" lautstark der Lüge zu zeihen, um als jemand zu erscheinen, der im Besitz der vollständigen Wahrheit ist. Gegenkonzept? Null, nicht nötig. Kapitalismuskritik? Gerne - wird heute selbst von jenen beklatscht, die das Paradies der Werktätigen noch aus eigener Anschauung kennen. Putins Neo-Zarismus? Der Mann weiß jedenfalls, wo er steht!

"Ein zentrales Problem des politischen Lebens heute ist das Fehlen einer klaren Wertorientierung der politischen Elite, die sie an die Lebenswirklichkeit ihrer Bürger binden könnte", schreiben die Autoren des Demokratie-Indexes vom britischen Magazin "Economist". "Im frühen 20. Jahrhundert kannten die führenden Politiker die Werte, für die ihre Nationen standen. Heute sind sie unfähig, das auszusprechen, was in ihren Gesellschaften hochgehalten wird."

Immerhin: Demokratie bleibt ein Gütesiegel, das keiner missen möchte. Erstaunlicherweise behaupten nahezu alle Staaten der Welt von sich, Demokratien zu sein. Auch Nordkorea, das auf jeder Wie-steht-es-um-die-Demokratie-Liste den letzten Platz belegt. In Wahrheit lebt nur knapp die Hälfte der Menschheit in mehr oder weniger gut funktionierenden demokratischen Staaten, und obwohl sich deren Zahl in den vergangenen vier Jahrzehnten auf 116 beinahe vervierfacht hat, sind die Feinde der Demokratie keineswegs weniger geworden - nur ihre Versuche raffinierter, Freiheit auszuhöhlen.

Unsere Geschichte ist auch eine der Irrtümer. Einem der größten sind vielleicht schon die freien griechischen Männer aufgesessen, die sich einst auf dem Marktplatz ihres Stadtstaates, der Polis, versammelten, um über alle Dinge zu entscheiden, die ihre Gemeinschaft betrafen. Vielleicht war damals, vor 2500 Jahren, "Heureka" zu hören: Hurra, ich hab's gefunden, das ist das Ende der Geschichte. Aber die Geschichte zeigt, dass es nichts Gefährlicheres gibt, als sich darauf auszuruhen.

(RP)
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