Bagdad "Der IS hat unsere Heimat entweiht"

Bagdad · Zerstörung, Misstrauen, Angst - viele christliche Flüchtlinge im Irak wollen nicht in befreite Gebiete zurückkehren.

Nehla steht mit ihrer zehnjährigen Tochter Mariam in der kleinen Küche ihres Wohnwagens und bereitet das Mittagessen vor. Die Tür steht weit offen, die Wintersonne wärmt, nachts ist es in Bagdad schon bitterkalt. Ihr Name bedeute soviel wie "nimm das Wasser", erklärt Nehla und bittet die Besucher mit einer Wasserflasche in der Hand herein. Jede Familie im Camp hat einen weiß-blau angestrichenen Karavan mit zwei Schlafzimmern, Küche und Bad. Das Lager macht einen gepflegten Eindruck. Kein Vergleich zu anderen Camps, die mit Zelten ausgestattet sind und bei Regen zu Schlammpisten mutieren.

Das Flüchtlingslager "Jungfrau Maria" ist nur für Christen ausgerichtet und liegt mitten in Bagdad. Der christliche Abgeordnete im irakischen Parlament, Yonadam Kanna, hat das Grundstück neben dem Hauptquartier seiner assyrischen Partei von der Stadt gemietet, als immer mehr Christen aus dem Nordirak vor dem IS fliehen mussten. Seit April 2015 sind sie hier. 150 Familien, etwa 800 Menschen, davon 100 Kinder im schulpflichtigen Alter. Eileen, eine rundliche, herzliche Frau Ende 30, leitet das Lager. Insgesamt gäbe es 550 christliche Flüchtlingsfamilien in Bagdad, sagt sie. Die meisten seien privat untergekommen, bei Freunden, Familienangehörigen oder Bekannten. Die, die niemanden kennen, sind hierher gekommen. Die meisten stammen aus Karakosch - der Christenstadt im Nordirak, die Anfang November von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) befreit wurde.

Ursprünglich stammen Nehla, ihr Mann und die zwei Kinder aus Bagdad, erzählt die 41-Jährige. Sie hatten eine Autowerkstatt in Sara, einem südlichen Stadtteil der Hauptstadt, wo der Tigris eine Schleife macht. Als der Bürgerkrieg 2006 begann, Schiiten und Sunniten sich gegenseitig umbrachten, gerieten die Christen zwischen die Fronten.

"Mein Mann bekam einen Drohbrief, wir sollten die Stadt verlassen." Als Nehlas Bruder umgebracht wurde, kurz nachdem er ein Restaurant eröffnet hatte, beschlossen sie zu gehen. Nehlas Mann gab sein Geschäft auf, sie kündigte die Wohnung. Die Familie zog nach Karakosch. Die damalige Kleinstadt in der Nineve-Ebene, auf halber Strecke zwischen der Kurdenmetropole Erbil und der damals noch zweitgrößten Stadt Iraks, Mossul, versprach ein sicherer Hafen für bedrohte Christen zu sein.

Innerhalb kurzer Zeit wuchs Karakosch von 25.000 Einwohnern auf das Doppelte an. Eine Mauer wurde um die Stadt gezogen, ein einziger Checkpoint errichtet, der von kurdischen Peschmerga-Soldaten kontrolliert wurde. Kritische Zungen sprachen vom "Christen-Ghetto" in Nineve. Doch die Einwohner fühlten sich beschützt und sicher. So auch Nehla und ihre Familie. Wohnten sie anfangs noch bei Verwandten, bauten sie schnell ihr eigenes bescheidenes Haus. Ihr Mann reparierte Autos, es ging aufwärts.

Doch dann kam der IS und nahm buchstäblich über Nacht "Hamdaniya", wie Karakosch auf Arabisch heißt, ein. Panikartig verließen kurz vor dem Angriff fast alle Einwohner die Stadt. "Wir hatten einen Tipp bekommen, dass sie angreifen werden", erzählt Nehla. Als die Dschihadisten kamen, war Karakosch leer. Die kurdischen Peschmerga-Wachen am Checkpoint seien schon weg gewesen, als die Christen flohen. Sie waren schutzlos. Offen sagt das niemand, aber hinter vorgehaltener Hand werden die Kurden beschuldigt, ihr Versprechen, Karakosch zu schützen, gebrochen zu haben. Auch deshalb will niemand zurückgehen. Das Misstrauen gegen die Sicherheitskräfte sitzt tief, auch wenn jetzt offiziell die irakische Armee Karakosch zurückerobert hat, um Ressentiments gegenüber den Kurden auszubalancieren.

Bis jetzt sei noch niemand von hier wieder zurückgegangen. "In Karakosch kann man nicht mehr leben", so die einhellige Meinung in der Cafeteria des Flüchtlingslagers. Die Barbaren des IS hätten den Ort entweiht. Jeder der Anwesenden war schon dort, hat nach Haus und Hof geschaut, um dann ernüchtert wieder nach Bagdad zurückzukommen. Videos auf Smartphones machen die Runde. Darauf zu sehen sind Trümmer, zerbrochenes Porzellan, zerfetztes Spielzeug, heruntergebrochene Zimmerdecken, zerbombte Dachstühle. Kartenspielen im Café dient vielen als Ventil. "Wenigstens hierbei sind wir manchmal auf der Siegerseite", sagt einer. Ansonsten hätten sie alles verloren.

(RP)
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