Essay Der Juli ist ja so gefährlich

Es vergeht kein Tag, an dem nicht vor irgendetwas gewarnt wird. Heute etwa vor Gift im Mineralwasser und Aluminium im Deo. Schießen wir mit unserer Angst nicht manchmal übers Ziel hinaus?

In den vergangenen Wochen konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Sommer in Deutschland mindestens so gefährlich ist wie der Aufenthalt in einem afghanischen Minenfeld. Lautstark warnen die Medien vor jeder Tätigkeit, der ein zivilisierter Mensch im Freien nachgehen könnte.

In Düsseldorf und Umgebung etwa muss man schon seit Pfingsten mit der ständigen Bedrohung durch Bäume oder Baumteile leben. Nach dem Orkan "Ela" sind viele Wälder immer noch gesperrt ("Lebensgefahr durch herabfallende Äste", express.de, 5. Juli).

Menschen, die halbwegs bei Verstand sind, meiden den Wald im Sommer aber ohnehin. Außer, sie suchen den Tod. Denn im Schutz des dunklen Tanns lauert ein Feind, der, glaubt man uns Journalisten, an Heimtücke und Grausamkeit nicht zu überbieten ist: die Zecke! ("Das gefährlichste Tier Deutschlands", welt.de, 8. Juli). Ihr zu entgehen ist quasi unmöglich.

Wer dennoch partout nicht im sicheren Wohnzimmer bleiben will, könnte bei Fahrradtouren Spaß haben - sofern er Strecken durch Wälder vermeidet. Allerdings ist auch Zweiradfahren sehr gefährlich. Zumindest wenn man lebensmüde ist und ohne Helm radelt ("Helme verhindern schwere Kopfverletzungen", nw-news.de, 17. Juli).

Alle, die ohne Helm und ohne Gurt zu Fuß draußen unterwegs sind, sollten sicherheitshalber immer das Wetter im Auge behalten, denn auch sie sind in Gefahr: "Hier blitzt es am häufigsten", betitelte am vergangenen Dienstag die Rheinische Post einen Artikel über den neuen Blitzatlas für Deutschland. Ein willkommener Anlass, darauf hinzuweisen, wie gefährlich es bei schlechtem Wetter draußen ist ("Pro Jahr bis zu 1000 Verletzte und zehn Tote durch Blitze", Spiegel Online, 21. Juli).

Kaum hatten sich Blitz und Donner medial verzogen, kam plötzlich die Sonne raus. Mitten im Juli. Wahnsinn! Eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern, wie gefährlich es draußen auch bei gutem Wetter ist ("Wer Nierensteinen vorbeugen will, sollte bei großer Hitze deutlich mehr als zwei Liter am Tag trinken", azonline.de, 23. Juli).

Die Temperaturen kletterten innerhalb weniger Tage auf deutlich mehr als 25 Grad, und zahlreiche Menschen wagten sich leicht bekleidet ins Wasser. Leichtsinnigerweise. Denn woran viele nicht denken: In immer mehr Teichen lauern gefährliche Schnappschildkröten auf ahnungslose Badegäste ("Können leicht Gliedmaßen wie einen Finger abbeißen", bild.de, 23. Juli).

Gewässer wie die Ostsee, die sich wegen ihres Salzgehaltes keine eigenen Schnappschildkröten leisten können, versuchen mit gefährlichen Unterströmungen Touristen das Leben zu nehmen ("Selbst erfahrene Schwimmer geraten in so einer Situation schnell in Panik", merkur-online, 22. Juli). Baggerseen sind ebenfalls ein trügerisches Idyll und laden weniger zur Erfrischung als vielmehr zum Herzinfarkt ein ("Gerade diese Gewässer bergen tückische Gefahren", derwesten.de, 22. Juli). Vom Baden in Flüssen wie dem Rhein mit seinen gefährlichen Strömungen und Strudeln wollen wir gar nicht erst reden.

Gut, man kann zu Hause im Garten bleiben. Vorausgesetzt, man verzichtet aufs Grillen. Denn das ist ausgesprochen gefährlich ("Die glühende Kohle kann nicht nur zu schweren Verbrennungen bei Menschen führen, sondern auch trockenes Gras oder Hölzer entzünden", RP Online, 17. Juli).

Der Sommer in Deutschland ist so gefährlich, dass man sich fast wünscht, er wäre vorbei. Andererseits beginnt dann bald der Winter, und der ist noch gefährlicher. Man denke nur an glatte Gehwege, herabfallende Eiszapfen, nicht komplett zugefrorene Seen oder an das Schlimmste von allem: Autos ohne witterungsgemäße Bereifung.

Sicherheitshinweis: Alle diese Gefahren sind real. Und natürlich wollen wir niemanden auffordern, Badeverbote oder Sturmwarnungen zu ignorieren, allein schon deshalb, weil diese meist sehr sinnvoll sind. Es gehört ganz im Gegenteil zu unserer journalistischen Pflicht, Leser vor Gefahren zu warnen, auch vor Blitzen, Strömungen und Zecken. Was unser Publikum im Übrigen auch schätzt: Regelmäßig zählen die "So-gefährlich-ist-xy"-Artikel zu den meistgelesenen Texten einer Zeitung oder einer Website. Aber ebenso natürlich ist das ständige Schüren von Ängsten völliger Unsinn. Erstens, weil es manchen Menschen die Lebensfreude raubt. Zweitens, weil manche Menschen abstumpfen und dann ernst gemeinte Warnungen ignorieren. Und drittens, weil es volkswirtschaftlich betrachtet kompletter Unsinn wäre, im Sommer auf den Waldspaziergang zu verzichten und aus Angst vor Schnappschildkröte und Herzinfarkt lieber zu Hause vor dem Fernseher zu hocken als zum Schwimmen ans Meer zu fahren.

Man kann dieses Urteil fällen, ohne im Internet nach entsprechenden Zitaten von Gesundheitsökonomen gesucht zu haben, weil es bei der Helmpflicht für Fahrradfahrer genauso ist: Selbstverständlich ist es sicherer, mit Helm Rad zu fahren als ohne; eine Pflicht zum Helmtragen würde aber viele Menschen ganz vom Fahrradfahren abhalten, und das wäre noch schlechter, sagen Experten.

Das Leben ist nun einmal gefährlich. Man kann die Gefahr reduzieren - durch Einsatz des gesunden Menschenverstandes oder, wenn dieser nicht in ausreichendem Maß vorhanden ist, durch das Beachten gewisser Regeln. Aber ganz und gar ungefährlich wird es dadurch nicht. Sinnvoll wäre es daher, wenn wir Journalisten uns beim Warnen eine gewisse Mäßigung auferlegten und Behörden nur dann "Lebensgefahr" ausriefen, wenn wirklich welche besteht. Dann hätten Menschen wieder mehr Spaß am Leben und nähmen ernste Warnungen wieder ernst.

(RP)
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