Istanbul Der Kurdenkonflikt hat ein neues Zentrum

Istanbul · Die türkische Stadt Cizre wird seit einer Woche von Sicherheitskräften abgeriegelt. 32 PKK-Rebellen starben dort.

Eine Stadt mit 120 000 Einwohnern wird zum Brennpunkt des neu aufgeflammten Kurdenkonflikts in der Türkei: Seit vergangener Woche wird das südosttürkische Cizre an der syrischen Grenze von Sicherheitskräften abgeriegelt. Nach Regierungsangaben sind in den vergangenen Tagen mehr als 30 Kämpfer der PKK-Kurdenrebellen bei Straßenkämpfen in Cizre getötet worden. Kurdenpolitiker sprechen dagegen von einer brutalen Strafaktion gegen kurdische Zivilisten, der Kinder und Frauen zum Opfer gefallen seien. Die PKK rief aus Protest gegen die Situation in Cizre ihre Anhänger in Europa zu Widerstandsaktionen auf.

PKK-Anhänger hatten Cizre vor einigen Wochen einseitig zu einem Autonomiegebiet erklärt, in dem türkische Institutionen nicht mehr anerkannt werden sollten. Militante Kurden errichteten Barrikaden und hoben Gräben aus, um Polizeifahrzeugen den Zugang in die Stadt zu verwehren. Die Behörden reagierten mit der Entsendung von Sondereinheiten der Polizei und verhängten vor einer Woche eine Ausgangssperre.

Seitdem werfen sich Regierungsvertreter und Kurdenaktivisten gegenseitig schwere Menschenrechtsverletzungen in der Stadt vor. Innenminister Selami Altinok erklärte, in Cizre seien 800 Kilogramm Sprengstoff beschlagnahmt worden. Straßen seien mit Sprengfallen unpassierbar gemacht worden, heißt es in Ankara. Bei Gefechten in der Stadt wurden demnach 32 PKK-Mitglieder erschossen.

Kurdenpolitiker berichteten dagegen von Scharfschützen der Polizei, die Jagd auf Zivilisten machten. Frauen und Kinder seien der Belagerung zum Opfer gefallen. Selbst Beisetzungen sowie Gottesdienste in Moscheen würden verboten, Wasser und Strom seien vielerorts abgestellt. In Cizre solle ein Exempel statuiert werden.

Die Führung der legalen Kurdenpartei HDP versuchte vergeblich, nach Cizre zu gelangen: Sicherheitskräfte verwehrten den Politikern den Zutritt in die Stadt. HDP-Chef Selahattin Demirtas erklärte darauf, die Brutalität von Polizei und Armee in Cizre hätten der PKK viele Sympathien verschafft. Auf Bildern, die angeblich aus der Stadt stammen, waren in den vergangenen Tagen viele schwer verletzte Menschen zu sehen, darunter ein Kleinkind. Während die Kurden dem Staat Vorwürfe machen, geht die PKK selbst äußerst brutal und ohne Rücksicht auf Zivilisten vor. In Diyarbakir eröffneten Kurdenrebellen das Feuer auf Polizisten in einem Lokal und töteten einen kurdischen Kellner.

In dem Konflikt in Cizre geht es jedoch nicht nur um Gräueltaten beider Seiten, sondern auch ums Prinzip. In PKK-Erklärungen wird die Lage der Stadt mit der Belagerung der syrischen Kurdenstadt Kobane im vergangenen Jahr verglichen: In der Propaganda der Kurdenrebellen wird Cizre zum Zentrum des Widerstands gegen das Böse verklärt.

Die PKK will im türkischen Südosten mit Gewalt eine kurdische Selbstverwaltung durchsetzen, ähnlich den kurdischen Kantonen im benachbarten Bürgerkriegsland Syrien. Diese Forderung macht die Entwicklung in Cizre für die türkische Regierung so gefährlich: Die "Autonomie" ist für Ankara das Zeichen eines wiederbelebten kurdischen Separatismus. "Wir sind hier nicht in Syrien", sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu.

NAV-DEM, ein Dachverband PKK-naher Vereinigungen in Deutschland, rief indes zu Kundgebungen in der Bundesrepublik auf. Dabei solle gegen die "Massaker" des türkischen Staats in Cizre protestiert werden.

(RP)
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