Riga Der lange Arm des Kreml in Lettland

Riga · Russland rüstet an der Grenze zum Baltikum militärisch auf. Aber noch wirkungsvoller ist der Moskauer Einfluss über die Medien.

Die Gäste und die Bedienung sprechen Russisch. Nur in den Schaufenstern sind die Plakate ausschließlich in lettischer Sprache. Etwas befremdlich - das Lettischste an einem Lokal in der lettischen Stadt Daugavpils ist die Speisekarte. Die Grenze zu Russland ist hier im Alltag längst überschritten, und der Einfluss des Nachbarn greifbar.

Daugavpils, deutsch auch Düna-burg genannt, liegt im Süden Lettlands, in Grenznähe zu Weißrussland und Russland. Die Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern gilt als Metropole der russischsprachigen Bevölkerung - rund 53 Prozent sind Russen, etwa 19 Prozent Letten, die restliche Bevölkerung setzt sich hauptsächlich aus Polen und Weißrussen zusammen.

Das spiegelt sich auch im Medienkonsum, ganz überwiegend werden russische Kanäle genutzt. Über TV-Sender und Zeitungen werden patriotische Botschaften und Propaganda verbreitet. So auch, wenn es um die Stationierung von Nato-Truppen im Baltikum geht. Vier Bataillone der Nato sollen im Baltikum eingesetzt werden - insgesamt rund 4000 Mann. Die russischsprachigen Zeitungen in Lettland berichten aber von Zehntausenden Nato-Soldaten, die angeblich angriffslustig auf Russland spähen. Von einem "rüstenden Baltikum" ist die Rede auf den Titelseiten in den Supermarktregalen, von schnellen Nato-Panzern und dem "russischen Erbe Lettlands".

Was die emotional angehauchten Berichte verschweigen: Auf etwa 330.000 Soldaten schätzen Experten die russischen Truppen, die an der Grenze von Estland, Lettland und Litauen stationiert sind. "Sechs russischen Soldaten setzt die Nato an der lettisch-russischen Grenze nur einen entgegen", sagt Maris Cepuritis, Forscher am Centre for East European Policy Studies (CEEPS). Nach einer Faustregel sollte das Verhältnis von Angreifern und Verteidigern drei zu eins sein, damit ein militärischer Angriff erfolgreich ist. Für die russische Seite besteht also keine ernsthafte Gefahr. Auch beim Gerät, bei Panzern, Hubschraubern oder Raketen sind die Nato-Kräfte krass unterlegen. "Eine Parität erreichen wir mit den russischen Kräften überhaupt nicht", sagt Andis Kudors, Geschäftsführer des CEEPS und Mitglied im Außenpolitischen Rat im lettischen Außenministerium.

Seit der Annexion der Krim 2014 werden in den baltischen Staaten alte Ängste wach: 1940 besetzte die Sowjetunion Estland, Lettland und Litauen. Immer noch herrscht eine Stimmung zwischen Wachsamkeit und Unsicherheit. "Unsere Besorgnis beruht nicht auf Fantasien", sagt Janis Garisons, Staatssekretär im lettischen Verteidigungsministerium. "In den vergangenen sechs Jahren haben wir verstärkte Aktivitäten von Russlands Seite beobachtet." Und dies seien keineswegs Antworten auf die Entscheidung der Nato, zusätzliche Truppen ins Baltikum zu entsenden, wie es russische Medien gerne darstellen. "Es ist klar zu erkennen, dass nicht die Verteidigung, sondern Angriffsfähigkeiten trainiert werden." Bereits nach 2010 hatte Russland neue Militärstützpunkte in Lettlands Nähe eröffnet. Auch ein Hubschrauber-Stützpunkt in Ostrow in 37 Kilometer Entfernung von der Grenze wurde wieder in Betrieb genommen.

Tatsächlich sind groß angelegte Militärübungen und das Rüsten auf russischer Seite zwar besorgniserregend, jedoch noch keine direkte Bedrohung, sagen Experten. "Ich finde, den gefährlichsten Einfluss hat Russland in Lettland durch die Medien", sagt Kudors. Die meisten russischsprachigen Einwohner nutzen Medien in ihrer Muttersprache. Insbesondere lettisches Fernsehen kann mit der bunten Vielfalt des russischen Fernsehens und dem massiven Angebot an Unterhaltung nicht mithalten. "Die Leute in Lettland bekommen dasselbe Propaganda-Material zu sehen, mit dem auch die russische Bevölkerung bearbeitet wird", sagt Cepuritis. Und das kostenlos: Russland stellt den Zugang zu den fünf russischen TV-Kanälen gratis zur Verfügung.

Zwischen Talkshows, Stand-Up-Comedy und Schnulzen soll bei den russischstämmigen Bewohnern Lettlands der Draht zum Vaterland gestärkt werden. Kudors bezeichnet das Vorgehen drastisch als Verkrüppelung der Demokratie: "Auch wenn Russland die geografische Grenze einhält - im Informationsraum hat es diese längst überschritten und beeinflusst aktiv Politik und Gesellschaft."

"Nicht nur Ereignisse in Lettland werden verzerrt dargestellt", bestätigt Cepuritis. "Auch Geschehnisse auf globaler Ebene werden in der der russischen Politik genehmen Form präsentiert." Da kommen kontroverse Themen wie die Flüchtlingswelle in Europa gut gelegen: "Lettlands zukünftige Bewohner werden in der Ukraine und auf dem afrikanischen Kontinent geboren", steht auf der Titelseite der "Vesti Sevodnja", einer russischen Wochenzeitung. Nur 85 Cent kostet das Blatt - besonders russischsprachige Rentner kaufen es gern.

Zu einer wahren Herausforderung sei die Schieflage in der Berichterstattung bereits 2008 geworden, findet die lettische Regierung. Damals wurde ein militärischer Konflikt im Transkaukasus ausgetragen. Über die Auseinandersetzung zwischen Georgien und Russland, Südossetien und Abchasien wurde in russischen Medien nicht objektiv berichtet. "Nach den Ereignissen in Georgien wurde uns klar, dass die lettischen und westlichen Medien das eine berichten, aber die Zuschauer der vom Kreml kontrollierten Kanäle etwas ganz anderes vorgesetzt bekommen. Diese Medien lügen - in hohem Maße und konsequent", sagt Viktors Makarovs, parlamentarischer Staatssekretär im lettischen Außenministerium. Aber jeder Versuch, die russischen Propagandasender zu verbieten, stieß auf den Vorwurf, die Meinungsfreiheit werde eingeschränkt.

Forscher Cepuritis ist sich trotzdem sicher: "In der Region exisitert eine sehr starke eigene Identität. Auch wenn der Anteil von Russen hoch ist - ich glaube kaum, dass einer von den Einwohnern hinnehmen würde, wenn sich jemand gegen sie oder die lettische Regierung vor Ort wendet." Doch in ganz Lettland spaltet sich die Bevölkerung weiter entlang der Sprachgrenzen auf.

"Wenn mich jemand auf Russisch anspricht, antworte ich auf Lettisch. Das ist ja mein gutes Recht, ich möchte in meinem Land meine Sprache sprechen", sagt eine junge Frau aus Riga. Sie beherrscht beide Sprachen, aber "es geht ums Prinzip". Das beobachtet auch Maris Andzans, Forscher am Latvian Institute of International Affairs: "Die Unterstützung patriotischer Werte ist in den vergangenen Jahren gestiegen." Doch wie stark hängen die Letten tatsächlich am Staat? "Patriotische Gefühle gibt es für das Land, aber nicht für die Regierung. Das Vertrauen in Parteien und Politik ist gering."

Während im Südosten des Landes die Grenze zwischen Russen und Letten oft verschwimmt, dominiert in den nördlichen Städten Lettlands der Nationalstolz: Fähnchen an den Autos, Anstecknadeln, Folkloremuster auf den Schals, Andrang in Lokalen, wo Volksmusik gespielt wird und traditionelle Küche serviert wird. Die Menschen tragen ihre Zugehörigkeit zu dem Land, das doppelt so groß ist wie Nordrhein-Westfalen, aber nicht einmal zwei Millionen Einwohner hat, stolz vor sich her. Zurzeit noch mehr als sonst. Und trotzdem - oder vielleicht genau deshalb - befürchten manche: "Die Krim kam zuerst, wir sind die nächsten." Besonders junge Erwachsene im russischsprachigen Teil der Bevölkerung erleben, wie ihr privates Umfeld durch die angespannte politische Lage gespalten wird. "Eigentlich will ich nicht viel dazu sagen", sagt ein junger Lette, dessen Familie russischstämmig ist. Er beherrscht beide Sprachen fließend, sein Freundeskreis ist gemischt. "Ich meide das Thema, weil sowieso jeder was eigenes erzählt."

Die Annexion der Krim sei zwar eine Tragödie gewesen, sagt Politikforscher Kudors, "für die baltischen Länder war es aber auch eine Chance. Die westlichen Länder hören uns jetzt zu und nehmen unsere Bedenken ernst." Die Stationierung von Nato- Truppen sei zwar mehr Signalpolitik als militärische Strategie, jedoch sei genau das wichtig: "Wir dürfen nicht schwach aussehen, und das tun wir auch nicht."

(juz)
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