Berlin Der Weg zum Einwanderungsland

Berlin · Der Anwerbestopp prägte Deutschland am Tag der Wiedervereinigung. Daraus wurde eine dynamische Willkommenskultur.

Liselotte Funcke hieß die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, als der Kanzler unerschütterlich feststellte: "Deutschland ist kein Einwanderungsland." Nun heißt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz, und die Kanzlerin sagt: "Wir sind im Grunde schon ein Einwanderungsland." 25 Jahre Wiedervereinigung haben Gesicht, Gefühl und Selbstverständnis mehr verändert, als es der Vergleich zwischen der in Hagen geborenen FDP-Politikerin Funcke und der in Hamburg geborenen SPD-Politikerin Özoguz erahnen lässt.

Neun Monate vor dem Mauerfall, als niemand sich auch nur im Entferntesten vorstellen konnte, welcher epochale Umbruch bevorstand, beschäftigte sich die Bonner Republik mit dem Zuzug von Aussiedlern (also Deutschen) aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion. Ein SPD-Vizevorsitzender namens Oskar Lafontaine schlug vor, durch Geldzahlungen an die Herkunftsländer den Zustrom der Deutschstämmigen zu stoppen. Und der CDU-Kanzler Helmut Kohl beklagte, dass "Asylantenproblem" und "Ausländerfrage" unzulässig mit Aussiedlern verknüpft würden, um mit den Ängsten der Menschen Stimmung zu machen. Die alte Bundesrepublik tat sich auf ihre alten Tage schwer mit Zuzug aus dem Ausland. Fremdenfeindlichkeit entzündete sich im Wettbewerb um Arbeitsplätze und Wohnungen. Die aktive Anwerbung von "Gastarbeitern", die das Wirtschaftswunder in den 50er und 60er Jahren mit ermöglicht hatten, lag lange zurück. Seit 16 Jahren galt der "Anwerbestopp".

Die Situation in der zerfallenden DDR war noch krasser. Fremdarbeiter aus Vietnam und Mosambik lebten meist abgetrennt von der übrigen Bevölkerung. Und Asyl gab es in den 70ern hauptsächlich für ein paar Tausend Flüchtlinge aus Militärdiktaturen wie Chile, Spanien und Griechenland. Bevölkerungswanderung erlebten DDR-Bürger zumeist als Rückenansicht. Von der Staatsgründung bis zum Mauerbau waren fast drei Millionen in den Westen gegangen, es folgten Hunderttausende durch Flucht und Freikauf.

Als das "glücklichste Volk der Welt" (Berlins Regierender Walter Momper) aus dem Wiedervereinigungs-Freudentaumel heraus an die ungeahnt riesige Aufgabe von Aufbau und Zusammenbau ging, war es mental nicht auf die Flüchtlinge vorbereitet, die sich Anfang der 90er Jahre vor den Bürgerkriegen im zerfallenden Jugoslawien in Sicherheit brachten. Schwere Verwerfungen mündeten in einen "Asylkompromiss". Und der bestand im Kern darin, Nichteuropäer möglichst auf Distanz zu halten.

Doch das Klima wandelte sich. Innere Reformen und die Weltoffenheit einer dynamischen Exportnation machten aus dem kranken Mann Europas eine starke Volkswirtschaft. Mit der wirtschaftlichen Gesundung ging die Erfahrung einher, dass Zuwanderung nicht Anlass für Angst, sondern Hoffnung auf Zukunft sein kann.

Mehr als 17 Millionen Menschen sind in diesem Vierteljahrhundert weggezogen, mehr als 23 Millionen hinzugekommen. Ein atmendes System. Und ohne dieses Potenzial hätte die Demografie Deutschland schon geschrumpft. Nicht erst die aktuellen Bilder von der Willkommenskultur für Flüchtlinge veränderten die Wahrnehmung der Welt von Deutschland. Unter allen Industriestaaten ist die Bundesrepublik längst zweitgrößtes Einwanderungsland geworden und stellt "Klassiker" wie Kanada oder Australien in den Schatten. Und es lernt weiter, damit umzugehen.

(RP)
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