Analyse des deutschen Gesundheitssystems Für die Zwei-Klassen-Medizin gibt es viele Gründe

Berlin · Nicht allein die Aufteilung in private und gesetzliche Krankenversicherung sorgt für Ungleichbehandlungen in Praxen und Kliniken. Vielmehr sind die sozialen Unterschiede bei den Versicherten insgesamt die Ursache.

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Foto: dpa, Patrick Pleul

Die Deutschen sind im Vergleich zu anderen Bewohnern von Industriestaaten relativ gesund, lassen sich aber häufiger im Krankenhaus behandeln als die Menschen anderswo. Dies ist einer von mehreren Befunden des OECD-Gesundheitsberichts, der nahe legt, dass die Deutschen in Sachen Gesundheit auf hohem Niveau klagen.

Als ein zentrales Problem des deutschen Gesundheitssystems gilt, dass die vorhandenen guten medizinischen Leistungen nicht immer dort ankommen, wo sie tatsächlich gebraucht werden. Die Rede ist von Über-, Fehl- und Unterversorgung. Immer wieder heißt es, hierzulande gebe es eine Zwei-Klassen-Medizin. Diese Behauptung lässt sich allerdings nur in Teilbereichen belegen.

Unbestritten ist, dass Privatpatienten auf Facharzttermine weniger lange warten müssen als die gesetzlich Versicherten. Auch den Termin für einen Check im Computertomographen erhalten Privatpatienten meistens nach kürzeren Wartezeiten. Doch nicht immer ist die medizinische Rund-um-Versorgung ein Vorteil. Privatpatienten klagen häufig darüber, bei ihnen würde "alles" gemacht. So sollten beispielsweise Röntgenaufnahmen wegen der Strahlenbelastung auf das zwingend Notwendige beschränkt werden.

Das Warten auf einen Facharzttermin mag im Einzelfall lästig sein, ist häufig aber nicht mit großen Einschränkungen verbunden. Vorsorgeuntersuchungen oder auch die Kontrolle der Sehkraft sind planbar und können Wochen im voraus vereinbart werden. Wenn ein Patient allerdings unter Schmerzen leidet und es ihm nicht gelingt, spontan einen Termin bei einem Fachmediziner zu vereinbaren, liegt der Verdacht der Zwei-Klassen-Medizin nahe. Der frühere Vorsitzende der KV-Nordrhein und praktizierende Hausarzt Leonhard Hansen sieht vielmehr ein organisatorisches Problem: "Viele Fachärzte bestellen ihre Patienten alle drei Monate ein und schicken sie jedes Mal ohne weitere Veränderung wieder weg", sagt Hansen. Als Hausarzt sehe er immer wieder solche Befunde. Die Terminengpässe entstehen dem Gesundheitsexperten zufolge aus der Neigung der Ärzte, ihre Terminkalender voll zu schreiben, unabhängig davon, ob eine neue Einbestellung nach drei Monaten wirklich notwendig ist.

Wohlhabende leben länger und gesünder

Statistisch nachweisen lässt sich, dass Menschen, die in sozial schwierigen Verhältnissen leben, häufiger krank sind und früher sterben als die Wohlhabenden. Wobei sich dieser Umstand nicht allein auf eine mögliche Zwei-Klassen-Medizin zurückführen lässt. So ist gesundheitsbewusstes Verhalten in den oberen Schichten stärker ausgeprägt als in den unteren Schichten.

Die teils vorhandene Ungleichbehandlung im Gesundheitssystem lässt sich mit dem Schlagwort der Zwei-Klassen-Medizin aus Kassen- und Privatpatienten kaum erklären. Zumal nur ein Teil der Kassenpatienten wirklich benachteiligt ist. Es sind die Schwächsten, Alte, Schwerkranke und Arme. Eben diese Patienten haben häufig Schwierigkeiten, ihre Probleme zu schildern und ihre Rechte einzufordern.

Auch der Wohnort entscheidet, wie gut erreichbar Ärzte sind. Während es in wohlsituierten Vierteln in den Ballungszentren ausreichend Arzttermine gibt, sind die Praxen in ärmeren Vierteln knapper gesät. Mehrfach unternahm die Gesundheitspolitik den Anlauf, die Bereiche für die Praxisniederlassungen geschickter zuzuschneiden, so dass eine gleichmäßige Versorgung in Stadt und Land sowie in wohlhabenden und ärmeren Vierteln besser gelingt. Viel geändert hat sich noch nicht.

Das heißt, die Unterschiede in der Quantität und der Qualität der Gesundheitsversorgung lassen sich eher mit sozialen Unterschieden als mit dem Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenkasse erklären. Bei der Gesundheitsversorgung werden anders als beim Konsum von Autos, Urlaubsreisen und Kleidung soziale Unterschiede gesellschaftlich weniger akzeptiert. Die Gesundheit gilt uns als ein so hohes Gut, dass sie für alle gleichermaßen geschützt sein soll.

Das linke Lager will die Bürgerversicherung

SPD, Grüne und Linke sprechen sich seit Jahren für eine Bürgerversicherung, also eine einheitliche Krankenkasse aus. Das Idealbild: Alle Bürger sollen nach ihrer Leistungsfähigkeit in die Einheitskasse einzahlen, alle Patienten sollen den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten.

Doch eine Bürgerversicherung wird voraussichtlich die Probleme ungleicher Versorgung nicht lösen. Eher besteht die Gefahr, dass das Niveau der allgemeinen Versorgung sinkt und diejenigen, die dazu finanziell in der Lage sind, sich zusätzliche Gesundheitsleistungen einkaufen. An die Stelle der vermeintlichen Zwei-Klassen-Medizin träte ein mehrschichtiges System für Gesundheitsversorgung nach Geldbeutel — jenseits des Beitrags zur Krankenkasse.

Zudem warnen zahlreiche Studien vor ökonomischen Verwerfungen, wenn den privaten Versicherungen das Geschäft verbaut wird.

Die Terminvergabe beim Facharzt und die Wartezeit auf eine Operation gelten als Kristallisationspunkt und Gradmesser für die Frage, wie gerecht es in unserem Gesundheitssystem zugeht. Punktuell an diesen Problemen anzusetzen, wird echte Ungleichheiten bei der Gesundheitsversorgung nicht beseitigen. Vielmehr bedarf es tatsächlich strengerer Regelungen und Kontrollen, dass nur medizinisch notwendige Termine vergeben werden. Dann würden Menschen mit Schmerzen und schweren Leiden auch nicht lange auf einen Termin beim Facharzt warten müssen.

Die sozial begründeten Ungleichheiten im Gesundheitssystem können nur durch Aufklärung und Prävention sowie durch eine sorgfältige Planung der Standorte von Praxen und Kliniken gelindert werden.

(RP)
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