Schwerpunkt Integration 90 Prozent Migranten — eine Lehrerin erzählt

(RP). Cheeseburger zum Frühstück, leere Tornister im Klassenzimmer und Siebenjährige, die sich ihren Wecker selbst stellen: Das ist die Realität an nordrhein-westfälischen Grundschulen mit hohem Migranten-Anteil. Eine Lehrerin sagt: "Sarrazin spricht aus, was angesprochen werden muss."

 Lehrerin Claudia Schneiders* im Klassenzimmer. Sie möchte nicht erkannt werden, weil sie Repressalien fürchtet.

Lehrerin Claudia Schneiders* im Klassenzimmer. Sie möchte nicht erkannt werden, weil sie Repressalien fürchtet.

Foto: RP, Seybert

Auch diese Schulwoche wird für Claudia Schneider* mit einer Ernüchterung beginnen. "Ich frage die Kinder montags immer: Was habt Ihr am Wochenende gemacht?", erzählt die Grundschullehrerin. Und auch heute werden fast alle, das weiß sie nach sechs Jahren an ihrer Schule, antworten, dass sie einkaufen waren und ferngesehen haben. "Und sollte wider Erwarten einer sagen, er sei mit seinen Eltern am Rhein gewesen, wird garantiert jemand anderes fragen: Was ist das, der Rhein?"

Schneiders Schule liegt nur wenige Kilometer vom Rhein entfernt, in einer 60 000-Einwohner-Stadt mit mehreren sogenannten Problemvierteln: "90 Prozent unserer Kinder haben Migrationshintergrund, neulich waren es in einer dritten Klasse sogar 98 Prozent", sagt die 38-Jährige. "Die meisten kommen aus Marokko, der Türkei, Osteuropa. Was sie mitbringen an Wissen und Fähigkeiten, wird von Jahr zu Jahr weniger." Trotz der Förderprogramme, die vor allem auf die 193 000 der 665 000 Grundschüler in NRW abzielen, die eine Zuwanderungsgeschichte haben.

Rund 28 Millionen Euro pro Jahr gibt das Land allein dafür aus, Kinder mit Sprachproblemen zwei Jahre vor der Einschulung zu fördern. Kommen sie in die Grundschule, sind dort laut Schulministerium unter den 45 000 Lehrern auch 1139 Integrationsbeauftragte, die sich weiter um Sprachförderung kümmern sollen. 508 Kräfte bieten zudem muttersprachlichen Unterricht an, um die Sprachkompetenz weiter zu erhöhen.

Aber Kinder, die in der vierten Klasse immer noch "der Frau" und "die Mann" sagen, sind das geringste der Probleme, mit denen Claudia Schneider und ihre Kollegen kämpfen. Die eigentliche Schwierigkeit zeige sich gerade jetzt wieder, zum Schuljahresanfang: "Viele Kinder wissen schlicht nicht, was Schule ist, was hier passiert, warum sie hier sind." Ein türkisches Ehepaar habe seinen Sohn zum Beispiel allein zur Einschulung geschickt — und am Tag darauf mit einem leeren Tornister zur Schule. Kein Heft, keine Stifte, nichts. "Beide Eltern sind Analphabeten", sagt Claudia Schneider nüchtern.

Unterstützung, das erfahre sie immer wieder, bedeute für viele Eltern vor allem Versorgung. "Neulich morgens packte ein Schüler einen Cheeseburger aus. Auch Pizza Tonno in der Brotdose kommt vor. Wir hatten hier schon einen Zweitklässler, der 62 Kilo auf die Waage brachte." Besonders mit ihren Söhnen meinen es viele Mütter gut. "Viele Jungs werden so unglaublich unselbstständig." Viertklässler wollen von ihren Lehrern die Schnürsenkel zur Schleife gebunden haben, dass man ihnen die Jacke zuknöpft, die Trinkflasche aufdreht. "Zum Teil zeigen wir den Kindern, wie ein Taschentuch funktioniert."

Nicht nur über Alltagswissen müssen sie und ihre Kollegen die Kinder "erst dazu befähigen, zu lernen". Auch Umgangsformen gehören auf den Stundenplan. Und hier, sagt Claudia Schneider, werden Milieuprobleme immer eindeutiger zu Migrantenproblemen. "Bitte sagen, Danke sagen, morgens die Hand schütteln — das kennen viele unserer Kinder nicht. Der kleine Ibrahim geht auch schon mal über den Schulhof und gibt einem anderen eins auf die Mütze, weil der ihn angeblich angeguckt hat. Rein prophylaktisch also."

Ein Mittel, das ihr übrigens auch schon Eltern empfohlen haben, sollten die Kinder mal nicht folgen. Ohne es zwangsläufig böse zu meinen, betont Claudia Schneider. Nicht allen ist das Vorankommen ihrer Kinder gleichgültig, darauf legt sie großen Wert. "Wir haben Väter von Kindern mit Migrationshintergrund, die ihre Schichten verschieben, um an Elternabenden teilnehmen zu können, und Mütter, die sich jemanden als Übersetzer organisieren, um zu verstehen, was dort besprochen wird. Andererseits ist neulich bei einem Elterntreffen ein Vater wieder gegangen, weil er nicht als einziger Mann mit fünf Frauen an einem Tisch sitzen wollte", sagt Claudia Schneider.

2005 verließen in NRW gerade zehn Prozent der Migranten die Schule mit einem Abitur, aber 30 Prozent der Deutschen. "Sarrazin spricht aus, was angesprochen werden muss", meint die Pädagogin, der sich die Folgen der mangelnden Integration nicht nur in Zahlen zeigen. Schneider erlebt die Folgen von Nichtintegration als Enttäuschung über besiegelte Schicksale. "Wenn unseren Kindern in der vierten Klasse klar wird, es geht auf die Hauptschule, haben viele das Gefühl: Hier ist für mich Schluss."

Der Ganztagsschulbetrieb, den die neue Landesregierung ausbauen und auch an neu gegründeten Gesamtschulen wieder zulassen will, sei die einzige Lösung, sagt sie. Die Rund-um-die-Uhr-Vermittlung von Wissen, Alltag und Kultur sei die einzige Chance für Migrantenkinder wie die an ihrer Schule, "dass sie eine andere Entwicklung nehmen als ihre Eltern".

Und dass Fälle wie der von Ayman kein Einzelfall bleiben: "Er war von Anfang an völlig auf sich gestellt. Musste alles allein machen. Sich den Wecker stellen, die Hausaufgaben, alles. Bei ihm hat es dazu geführt, dass er es aufs Gymnasium und bis zum Abi geschafft hat", erzählt Claudia Schneider. "Auf solche Kinder muss man stolz sein."

(RP)
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