Analyse der Vorgänge 2015 Als Angela Merkel ihren Machtinstinkt verlor

Berlin · Die Flüchtlingskrise war die bislang stärkste politische Herausforderung der CDU-Kanzlerin. Sie entfremdete Angela Merkel der eigenen Partei, spaltete das Land und verursachte nicht zuletzt den Aufstieg der AfD. Kostet die Grenzöffnung Merkel am Ende das Amt?

Flüchtlinge machen Selfies mit Angela Merkel
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Flüchtlinge machen Selfies mit Merkel

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Foto: dpa, bvj pil

Politische Bücher sind in der Bundeshauptstadt zur Massenware geworden. Fast wöchentlich berichtet einer aus dem Dunstkreis des politischen Berlins über Machenschaften von Amtsträgern, das Ende des demokratischen Konsenses oder den Untergang traditioneller Werte und Institutionen. Ein Buch, das seit Wochen an der Spitze der "Spiegel"-Bestsellerliste steht, hat nach Ansicht von Experten das Potenzial, das Ende der Kanzlerschaft Angela Merkels einzuläuten.

Robin Alexander, Hauptstadtkorrespondent der "Welt", versucht darin zu belegen, dass die deutsche Regierungschefin entgegen ihren öffentlichen Äußerungen sehr wohl die Möglichkeit hatte, unmittelbar nach der Massenanreise von Flüchtlingen in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 die Grenze zu Österreich zu schließen. Die Bundespolizei hatte Vorbereitungen getroffen, Innenminister Thomas de Maizière (CDU) schon den Marschbefehl in der Tasche, als ihm Merkel angeblich in den Arm fiel.

Der 13. September 2015

Stimmt es, was Alexander in seinem Buch "Die Getriebenen" minutiös aufgeschrieben hat, wollte die Kanzlerin im letzten Moment von ihrem Innenminister die Zusicherung, dass eine Grenzschließung gerichtlich Bestand hätte und durch die Zurückweisung von Flüchtlingen keine Bilder von verzweifelten, gedemütigten und verletzten Menschen entstünden. Beides habe de Maizière nicht zusagen wollen, und so fand die geplante Grenzschließung am 13. September um 18 Uhr nicht statt. Stattdessen kamen rund eine Million oder von den Behörden schöngerechnete 800.000 Menschen ohne gültige Papiere nach Deutschland.

Hat hier Merkel ihre Kanzlerschaft verspielt? Schließlich hat sie mehrfach den Eindruck erweckt, eine wirksame Kontrolle der Grenzen innerhalb des Schengenraums sei nach Abbau der Schranken gar nicht möglich gewesen. Sie hätte also die Grenzen gar nicht schließen können. Das brachte ihr nicht zuletzt den Vorwurf ein, dass ein Staat, der seine Grenzen nicht schließen kann, gar kein Rechtsstaat ist. Denn der Schutz der Grenzen definiere den Staat überhaupt.

Doch so einfach ist die Sache nicht. Tatsächlich hat Merkel weder den Einsatzbefehl gegeben noch ihn verhindert. So schreibt es auch der Autor. Stattdessen ging die Verantwortung zwischen beiden Behörden - Kanzleramt und Innenministerium - hin und her. Und der Beweis, dass die Bundespolizei wirklich den Zustrom aufgehalten hätte, wurde ja nicht erbracht.

Merkel war nicht immer Herrin des Verfahrens

Sicher ist, dass Merkel während der Flüchtlingskrise nicht immer Herrin des Verfahrens war. Die schon beschriebene unklare Entscheidung zum Großeinsatz der Bundespolizei an der Grenze gehört dazu; ebenso die Desavouierung ihres Innenministers beim Familiennachzug für syrische Flüchtlinge, den dieser vermeiden wollte, und die Zwangskontingente an Flüchtlingen für die übrigen EU-Länder, die krachend scheiterten. Die Länder waren trotz EU-Mehrheitsbeschlusses einfach nicht bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Von 160.000 in Italien und Griechenland Gestrandeten, die zur Verteilung in Europa bestimmt waren, wurden nur 1500 - nicht einmal ein Prozent - umgesiedelt.

Die administrativ so starke Kanzlerin, die bis 2015 in den zehn Jahren als Regierungschefin mit einer Mischung aus Zögerlichkeit und im Einzelfall rasanten und einschneidenden Entscheidungen so erfolgreich war, kam bei ihrer größten Herausforderung an Grenzen. Das europäische Recht, das den Ort des Asylantrags und die Verteilung der Flüchtlinge regelnde Dublin-Abkommen, war außer Kraft gesetzt. In der Innenpolitik wütete ein um sein Amt kämpfender CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident Horst Seehofer gegen den Kurs der Vorsitzenden der Schwesterpartei. Und gleichzeitig erfolgte der Aufstieg einer rechtskonservativen bis nationalistischen Partei, der AfD, die Merkel nicht mehr einfangen konnte oder wollte. Wie immer, wenn Menschen in größerer Zahl nach Deutschland einwandern, wächst die Zahl der Einheimischen, die rechtsaußen wählen. Die Union hat das stets mit einer Reduzierung der Einwanderung wieder repariert. Diesmal scheint es der AfD zu gelingen, als erste Partei seit den 50er Jahren, die rechts der Union angesiedelt ist, in den Bundestag zu kommen.

Für Merkel war Menschlichkeit wichtig

Es ist nicht das Machtkalkül, das Merkel in dieser Situation so handeln ließ, wie sie es getan hat. Auch nicht die schwarz-grünen Träume ihres Kanzleramtsministers Peter Altmaier, der in der Flüchtlingskrise zum zweitmächtigsten Mann der Republik avancierte und jetzt als Wahlkampfmanager die Union aus dem Stimmungstief holen soll.

Wer Merkel aus der Nähe kennt, weiß um ihre Geradlinigkeit in Fragen, die für sie essenziell sind. Dazu gehören die Menschenrechte, demokratische Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit sowie eine humanitäre Einstellung für Menschen, die in großer Not sind.

"Eine Partei, die im C ihre Grundlage findet. Und das heißt, in der von Gott gegebenen Würde jedes einzelnen Menschen", begründete sie ihren Einsatz für Flüchtlinge Mitte Dezember 2015 in Karlsruhe auf ihrer auch nach Ansicht des Buchautors Alexander besten Parteitagsrede, die sie je gehalten hat. Auch die Ablehnung der Obergrenze leitet sie letztlich aus christlich-humanitären Grundsätzen ab. "Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen", erklärte sie in einem Interview mit unserer Redaktion.

Und von der TV-Moderatorin Anne Will darauf angesprochen, ob sie angesichts der horrenden Schwierigkeiten ihres Kurses wirklich an eine Lösung glaube, sagte die gläubige Protestantin: "Leider glauben so viele nicht daran. Nicht so wie ich. Deshalb wünsche ich mir möglichst viele, die mit mir daran glauben. Dann kann man auch Berge versetzen." Die Anspielung auf das Matthäus-Evangelium ist eindeutig.

Rückbesinnung auf die Vorgänger?

Sie schließt damit an ihre christdemokratischen Vorgänger Konrad Adenauer und Helmut Kohl an, die bei allem Machtwillen Teile ihrer Politik wie die Aussöhnung mit ehemaligen Kriegsgegnern oder die wiedergewonnene Einheit des Landes christlich begründeten.

Ob die zugegebenermaßen in der Krise gefundene Grundsatztreue vom Wähler honoriert wird, ist offen. Den CDU-Anhängern hat sie mit ihrer Grenzöffnung viel zugemutet, die eher links-grünen Wähler wird sie damit kaum erreichen. Zudem hat Merkel in SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz einen starken Gegner, während sie selbst nach zwölf Jahren Kanzlerschaft abgenutzt wirkt. Und bei der Flüchtlingspolitik ist ihr die von ihr eigentlich abgelehnte Grenzschließung Österreichs und der Balkanstaaten eher unverdient zugutegekommen.

Doch Schulz hat sich bei der jüngsten Saarland-Wahl mit seinen rot-roten Avancen verheddert und muss zurückrudern, während die Flüchtlingskrise an Wucht verloren hat. Schließlich kann Merkel trotz aller Irrungen und Wirrungen auf dem Weg dorthin beim Wahlvolk mit zwei Errungenschaften aufwarten: Der Flüchtlingsstrom ist erst einmal versiegt, während die Grenzen weiter offen sind. Das ist als vorläufige Bilanz gar nicht so schlecht.

Robin Alexander: Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht. Siedler, 286 S., 19,99 Euro.

(kes)
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