Analyse Darum schiebt Deutschland weniger Asylbewerber ab

Berlin · Es gibt vielfältige Gründe, warum die Zahl der abzuschiebenden Asylbewerber noch immer so hoch ist. Nicht einmal Experten wissen, wie viele von ihnen überhaupt ausreisepflichtig sind. Schuld seien schlechte Datenbestände.

 Sammelabschiebung von abgelehnten Asylbewerbern (Archiv).

Sammelabschiebung von abgelehnten Asylbewerbern (Archiv).

Foto: Daniel Maurer/dpa

Die Rechnung, die CDU-Generalsekretär Peter Tauber Anfang 2016 aufmachte, wirkte verblüffend einfach. Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge pro Tag mehr als 2000 Asylanträge entscheide und jede zweite Entscheidung negativ ausfalle, "stehen die Länder in der Pflicht, täglich 1000 abgelehnte Asylbewerber abzuschieben". In dieser Dimension dachte auch Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier (CDU) Anfang 2017. Im Vorjahr seien 700.000 Asylanträge entschieden, fast 300.000 abgelehnt worden, lautete nun die aktualisierte Berechnung - mit ähnlichem Fazit: "Diese Personen wollen wir zügig zurückführen, sonst leidet die Glaubwürdigkeit unseres Rechtsstaates." So weit waren Altmaiers 300.000 aus einem Jahr von 1000 pro Tag gar nicht weg.

Nach der Lesart Altmaiers hat der Rechtsstaat Deutschland bis heute große Teile seiner Glaubwürdigkeit eingebüßt. Denn statt 300.000 hat es von Januar bis Ende September gerade einmal 18.153 Rückführungen gegeben. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Werte bis Jahresende noch verzehnfachen. Denn obwohl Angela Merkel zu Jahresbeginn eine "nationalen Kraftanstrengung" zur Abschiebung angekündigt hat, ist die Zahl der Abgeschobenen nicht gestiegen, sondern zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres sind es fast 2000 mehr gewesen.

Komplizierte Rechnungen, unvollständige Daten

Was für Laien wirkt wie der Ausweis eklatanten Versagens, sieht durch die Brille der Abschiebe-Experten mit Blick auf die Details der Nationalitäten sogar positiv aus. Die höheren Abschiebezahlen 2016 seien zustande gekommen, weil die Masse der Betroffenen aus den Balkanländern gekommen sei, die bei der Rücknahme ihrer Leute "optimal kooperiert" hätten. Das Gros dieser Menschen sei inzwischen weg, und nun gehe es um die vielen schwierigen Fälle, bei denen die Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten in den zurückliegenden Jahren extrem schwierig gewesen sei. Diese nähmen nun auf Druck Deutschlands deutlich mehr ihrer Landsleute zurück. "Nimmt man die Westbalkan-Staaten aus der Statistik heraus, zeigt sich, dass die Rückführungszahlen gegenüber 2016 gestiegen sind", erläutert ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Für den Laien bleibt es trotz dieses "Erfolges" bei einer riesigen Lücke zwischen 18.000 und 300.000.

Schon die aus der Sicht der Fachleute "positiven" Entwicklungen passen nicht mit der Größenerwartung der Bevölkerung zusammen. Doch es kommt noch schlimmer: Dann nämlich, wenn die aktuellen Abschiebezahlen mit der Summe der ausreisepflichtigen Ausländer und diese wieder mit den abgelehnten Asylanträgen in eine Beziehung gesetzt werden sollen, um die Arbeit der Behörden besser kontrollieren zu können. Denn dieses naheliegende Kriterium ist in den einschlägigen Statistiken nicht vorgesehen. Da lässt sich zwar im Ausländerzentralregister ermitteln, dass mit Stichtag 30. September 229.063 Personen ausreisepflichtig sind. Doch das sind nicht alles abgelehnte Asylbewerber. Darunter sind auch viele - Schätzungen reichen bis 50 Prozent -, die Deutschland aus anderen Gründen verlassen müssen. Unumwunden räumt das Ministerium ein, dass dieser Datenbestand "überarbeitungswürdig" sei.

Gerichtsverfahren über viele Monate

Vor allem: Von diesen 229.063, die auf den ersten Blick für Merkels "nationale Kraftanstrengung" infrage kämen, haben 163.184 eine Duldung. Sie können aktuell also gar nicht abgeschoben werden. Dies wiederum betrifft viele Flüchtlinge, zum Beispiel, wenn sie gegen einen negativen Bescheid klagen. Solange ihre Klage anhängig ist, kommen sie nicht auf die Liste der Abzuschiebenden. Und da die Zahl der Klagen sich in diesem Jahr verfünffacht hat, nicht aber die Zahl der Staatsanwälte und Richter, dauern diese Verfahren viele Monate. Dies kann dazu führen, dass die Flüchtlinge eben wegen ihres langen Aufenthaltes in eine Duldung "hineinwachsen". Und: Knapp jede dritte Klage ist erfolgreich.

Zu den gut 18.000 rückgeführten Ausländern müssen noch diejenigen hinzugezählt werden, die Deutschland freiwillig verlassen haben. Das waren bis Ende September noch einmal knapp 25.000, die das Rückkehrförderprogramm in Anspruch nahmen und mit einer kleinen finanziellen Starthilfe in ihre Heimat zurückkehrten. 9688 verließen auf diese Weise allein NRW. Doch es fehlen Zahlen über jene, die Deutschland freiwillig verließen, ohne Mittel zu beantragen. Zwar registrierten deutsche Grenzbehörden 34.400 Personen, die eine von den Ausländerbehörden ausgestellte "Grenzübertrittsbescheinigung" für die freiwillige Ausreise vorlegten. Doch wie viele darüber hinaus das Land verließen, wissen die Behörden nicht.

Damit lässt sich auch nicht ermitteln, wie viele Ausreisepflichtige in Deutschland in die Illegalität abgetaucht sind oder das Land oder gar Europa längst hinter sich gelassen haben. Die Recherche führt also dorthin, wo seit Jahrzehnten die größten Lücken bestehen: bei einer wirksamen und verlässlichen Kontrolle der EU-Außengrenzen.

Kein Zweifel besteht, dass auch bei den Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition das Abschiebethema eine wichtige Rolle spielen wird. Die FDP hat schon die Bereitschaft zum Familiennachzug an den Umfang der Abschiebungen geknüpft. Der Union schwebt eine zentrale Flüchtlingsunterbringung vor. "Um abgelehnten Asylbewerben künftig das Untertauchen zu erschweren, benötigen wir zentrale Entscheidungs- und Rückführungszenten, in denen alle Asylverfahren durchgeführt werden", unterstreicht Unionsinnenexperte Stephan Mayer. "Abgelehnte Asylbewerber können dann direkt von dort in ihr Herkunftsland rückgeführt werden."

(may-)
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