Arbeitsministerin im Interview Andrea Nahles: "Mein Ziel ist Anti-Stress-Verordnung“

Berlin · Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sprach mit unserer Redaktion über ihren eigenen Stress und wie sie künftig Arbeitnehmer im Urlaub vor E-Mails aus dem Betrieb schützen möchte. Zudem gab sie bekannt, dass seit dieser Woche die erhöhte Mütterrente ausgezahlt wird.

Andrea Nahles - Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion
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Wie viele Stunden pro Woche arbeitet die Arbeitsministerin?

Andrea Nahles Sehr viele (lacht). Aber das bringt mein Job mit sich. Und es ist auch nicht neu für mich. Als Generalsekretärin habe ich die Regelarbeitszeit auch nicht eingehalten. Aber erstens erfüllt mich die Arbeit als Ministerin. Und zweitens schaufele ich mir mit langen Tagen unter der Woche Zeit frei für freie Wochenenden mit der Familie.

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Foto: Shutterstock/ ollyy

Nahles Nein. Das ist wie bei einer Leistungssportlerin, bei der durch das viele Training das Herz wächst. Meine Belastbarkeit ist mit den Jahren gewachsen. Früher haben wichtige Entscheidungen bei mir mehr Stress ausgelöst. Mittlerweile habe ich darin Übung. Trotzdem gibt es einen Preis, den man zahlt: Ich bin zum Beispiel bei Alltagsstress dünnhäutiger geworden. Wenn ich gerade mitten in harten Arbeitswochen stecke und ein Flugzeug Verspätung hat, dann nervt mich das sehr.

Zurzeit diskutiert Deutschland über eine Antistress-Verordnung, die Arbeitnehmer zum Beispiel vor E-Mails im Urlaub schützen soll. Wollen Sie da tätig werden?

Nahles Ja. Das ist mein Ziel. Ich habe dafür gesorgt, dass die Prüfung einer Anti-Stress-Verordnung in den Koalitionsvertrag hineinkommt. Es gibt unbestritten einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme von psychischen Erkrankungen, das haben mittlerweile auch die Arbeitgeber anerkannt. Wir haben dazu auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Dennoch ist es eine Herausforderung, diese gesetzlich rechtssicher umzusetzen. Daher haben wir die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beauftragt, fundiert aufzuarbeiten, ob und wie es möglich ist, Belastungsschwellen festzulegen. Wir brauchen allgemeingültige und rechtssichere Kriterien, bevor wir den Betrieben etwas vorschreiben. 2015 sollen dazu erste Ergebnisse vorliegen.

Und bis dahin müssen wir mit der Dauererreichbarkeit leben?

Nahles Viele Unternehmen packen das Thema schon an. Davon können und sollen andere lernen. Wir helfen Arbeitgebern zum Beispiel im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit dabei, Stressfaktoren zu erkennen und diese Ursachen gemeinsam mit Beschäftigten und Betriebsräten anzugehen. Es gibt darüber hinaus auch schon eine Klarstellung im Arbeitsschutzgesetz, dass psychische Belastungen bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden müssen. Jeder Arbeitgeber ist und bleibt beim psychischen Arbeitsschutz ganz klar in der Pflicht. Er darf psychische Belastungen nicht anders behandeln als physische Belastungen.

Seit In-Kraft-Treten des Rentenpakets zum 1. Juli haben bisher 85 000 Arbeitnehmer einen Antrag auf Rente mit 63 gestellt. Überrascht Sie die große Zahl?

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Foto: dpa

Nahles Die Zahl ist vollkommen im Rahmen des Erwarteten. Wir sind von einer Obergrenze von 240.000 Beschäftigten im Jahr 2014 ausgegangen, die Anspruch auf die Rente nach 45 Jahren Arbeit haben könnten. Da sind 85.000 zum jetzigen Zeitpunkt keine Überraschung. Manch einer wird abgewartet haben, bis die Regelung galt - ein gewisser Nachholeffekt spielt also mit rein. Und: Diese Anträge müssen erst einmal geprüft werden. Es ist nicht ausgemacht, dass alle Antragsteller auch wirklich die Voraussetzungen für die Rente ab 63 erfüllen.

Auch die Erhöhung der Mütterrente ist zum 1. Juli in Kraft getreten. Wann werden denn die ersten Zahlungen bei den Frauen auf den Konten landen?

Nahles Jetzt kommen in dieser Woche die Renten aufs Konto, die wegen der besseren Anerkennung der Erziehungszeiten höher ausfallen. Und mit den Nachzahlungen hat die Rentenversicherung auch schon begonnen. Es wird sicher noch einige Wochen dauern, bis alle 9,5 Millionen Frauen, deren Rente sich wegen ihrer vor 1992 geborenen Kinder erhöht, das Geld auf dem Konto haben. Aber klar ist: Alle bekommen, was ihnen zusteht. Und dafür ist bei allen, die schon eine Rente bekommen, kein Antrag nötig. Das Geld kommt automatisch.

Rente mit 63, Mütterrente, Mindestlohn - warum kommt die SPD dennoch nicht aus dem Umfragetief heraus?

Nahles Normalerweise gehen die Umfragewerte erst einmal herunter, wenn eine Partei ein halbes Jahr in der Regierung ist. Das ist bei uns nicht so. Denn wir tun, was die Menschen von uns erwarten und wofür sie uns gewählt haben. Die Leute sehen, dass wir Wort halten und Konkretes für sie in Bewegung bringen. Das wird sich mittelfristig auszahlen, da bin ich sicher. Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen ist ein Marathon, kein Sprint.

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Foto: Techniker Krankenkasse

Womit wollen Sie die SPD im Gespräch halten?

Nahles Wir müssen zum Beispiel bei der Fachkräftesicherung weiter kommen und dem Missbrauch bei Werkverträgen und Leiharbeit das Wasser abgraben. Familienministerin Manuela Schwesig und ich arbeiten zudem gemeinsam daran, die Pflege für die Angehörigen zu erleichtern. Andere Stichworte sind Mietpreisbremse und Frauenquote. Sie sehen: Wir haben noch viel vor (lacht).

Was planen Sie bei der Fachkräfteinitiative?

Nahles Es muss konkreter werden — auch und vor allem für die Menschen, die schon im Land sind und die etwas mitbringen. Bei jungen Menschen, bei Personen mit Migrationshintergrund, bei Menschen mit Behinderung und auch bei Älteren liegen noch viele Fähigkeiten und Motivation brach. Das können wir noch viel besser nutzen, um Lücken zu füllen. Jeder kann was, und das müssen wir gezielt ausbauen.

Wie sehen solche konkreten Maßnahmen aus?

Nahles Wir werden zum Beispiel in die Ausbildungsfähigkeit der jungen Menschen investieren. Die Unternehmen beklagen, dass viele, die von der Schule kommen, nicht ausbildungsreif sind. Und zu viele Jugendliche, die wir vermitteln, brechen nach einem halben Jahr ihre Ausbildung ab. Zum einen kann es hier natürlich auch nicht nur Rosinenpickerei geben. Aber zum anderen kann man am Übergang Schule — Ausbildung — Beruf noch etwas machen. Ab 2015 gibt es Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds für die Berufseinstiegsbegleitung. Damit können wir Jugendliche, bei denen der Hauptschulabschluss auf der Kippe steht, in den letzten beiden Schuljahren und bis zu einem halben Jahr während der Ausbildung intensiv begleiten. Wir schauen, dass sie die Schule schaffen und auch in der Ausbildung durchhalten.

Wann werden Sie den Gesetzentwurf für die Rentenangleichung im Osten vorlegen?

Nahles Ich habe mich über das klare Bekenntnis der Kanzlerin sehr gefreut. Wir haben uns in den Koalitionsgesprächen stark für die Angleichung gemacht. Wir werden 2016 bewerten, wo wir in Sachen Angleichung stehen und dann gegebenenfalls 2017 die erste Teilanpassung gesetzlich regeln. Mit der Neuaushandlung der Bund-Länder-Finanzen 2019, wenn auch der Soli ausläuft, wollen wir die Angleichung abgeschlossen haben.

Wenn die Ostrenten auf Westniveau angehoben werden, wird dann die Höherwertung der Rentenpunkte der Ostdeutschen zurückgenommen?
Nahles Alle Einzelheiten werden im Rahmen der Gesetzgebung geregelt. Da kann und werde ich jetzt keine Festlegungen treffen. Der Wert eines Entgeltpunkts im Osten liegt jetzt schon bei 92,1 Prozent des Werts im Westen bei der Wiedervereinigung waren es gerade mal knapp 40 Prozent. Allein durch den Mindestlohn werden sich die Werte noch weiter angleichen. Wenn die Vereinheitlichung dann kommt, werden wir nach heutigen Schätzungen irgendwo zwischen 95 und 100 Prozent liegen.

Wenn die Höherwertung der Rentenpunkte der Ostdeutschen zurückgenommen wird, passiert das dann rückwirkend oder mit Inkrafttreten des Gesetzes?

Nahles Nochmal: Frau Merkel hat klar zum Ausdruck gebracht, dass wir eine Gleichstellung der Rentensysteme in Ost und West anstreben. Da sind wir uns einig. Wie die Umsetzung konkret aussehen kann und wird, steht aber noch überhaupt nicht fest. Und solange gibt es auch nichts zurückzunehmen.

Was wollen Sie beim Thema Armutszuwanderung unternehmen?

Nahles An erster Stelle steht, dass wir den Kommunen, die ganz besonders von Problemen mit Zuwanderung betroffen sind, zur Seite stehen und helfen. Das bedeutet auch finanzielle Unterstützung. Zweitens stehen wir uneingeschränkt zu einer der zentralen Säulen der europäischen Einigung: der Freizügigkeit. Es ist gerade eine ungeheure Stärke der EU, dass sich die Menschen ungehindert über die Landesgrenzen hinweg bewegen und Arbeit suchen können. Aber ich halte es für richtig, dass wir auf der europäischen Ebene unsere Regelung verteidigen: Im Grundsatz gibt es in den ersten drei Monaten und für die Zeit der Arbeitssuche keine Grundsicherungsleistungen. Das ist wichtig, um unsere Sozialsysteme legitim, verlässlich und leistungsfähig zu halten für alle, die auf Hilfe angewiesen sind.

Was tun Sie denn, um den besonders belasteten Regionen im Ruhrgebiet und in Berlin zu helfen?

Nahles In den nächsten Jahren stehen über verschiedene Kanäle wie zum Beispiel das Programm "Soziale Stadt" 200 Millionen Euro zur Verfügung. Darüber hinaus werden wir die Kommunen noch in diesem Jahr um weitere 25 Millionen Euro entlasten. Wir planen aber auch Veränderungen und Anpassungen bei den Integrationskursen — zunächst als Projekte in Duisburg, Dortmund, Berlin und München. Daneben werden die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für den Impfstoff von Kindern übernehmen, die aus anderen EU-Mitgliedstaaten zuwandern und bei denen die Krankenversicherung noch nicht geklärt ist. Man kann den Kommunen und den Menschen an vielen Stellen praktisch helfen — und das tun wir.

In Berlin sieht man bettelnde und arbeitende Roma-Kinder auf den Straßen. Muss sich der Staat hier stärker einmischen, um ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen?

Nahles Die Schulpflicht gilt für alle. Integration heißt für mich, dass wir Hilfe anbieten, aber auch darauf drängen, dass diese Hilfen angenommen und die Regeln anerkannt werden. Der Schulbesuch steht da ganz vorne, sonst schaffen wir uns die Probleme von morgen. Da hat jede staatliche Ebene ihre Verantwortung, die Schulpflicht müssen die Behörden vor Ort durchsetzen.

Das Interview führten Rena Lehmann und Eva Quadbeck

(qua / rl)
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