Hoffnungsträgerin der SPD Andrea Nahles und der "Schwur von Schwerte"

Schwerte · Im tiefsten Westfalen tritt SPD-Politikerin Andrea Nahles an und schweigt zu Gabriel. Der wiederum entschuldigt sich bei Martin Schulz.

 Andrea Nahles am Mittwoch in Schwerte.

Andrea Nahles am Mittwoch in Schwerte.

Foto: rtr, IK

In einem sind sich die so streitlustigen Sozialdemokraten einig. Es wird knapp mit dem Ja zur Groko, wenn man den Vorhersagen so mancher Mitglieder glaubt, die gestern Abend im "Freischütz" in Schwerte zum Politischen Aschermittwoch der Sozialdemokraten gekommen waren. Die Basis ist enttäuscht. Sie ist nicht zufrieden mit dem "Gemauschel" in der Personalpolitik wie mit den Ergebnissen zur Sozialpolitik im Koalitionsvertrag.

"Es wird keine SPD-Party. Dazu war das letzte Jahr zu schlecht", sagt der Landtagsabgeordnete André Stinka gleich zu Beginn. Der SPD-Landesvorsitzende Michael Groschek wird noch deutlicher: "Wir müssen ganz nach vorne streben. Platz zwei ist der erste Platz der Verlierer. Da gehört die CDU hin. Wir gehören in diesem Land auf Platz eins. Diese Partei ist kein Streichelzoo für Platzhirsche", sagt er. Und er lobt die designierte Parteivorsitzende Andrea Nahles, die versprochen hatte zu verhandeln, bis "es quietscht". Groschek: "Sie hat es geschafft, Merkel und Seehofer zu Quietscheentchen zu machen."

Zuletzt ruft er zum "Schwur von Schwerte" auf, mindestens in den nächsten 30 Jahren solle die SPD nie wieder so "zwischen Hosianna und Kreuziget ihn" schwanken. Eine Anspielung auf die Wahl von Schulz mit 100 Prozent zum SPD-Chef, Umfragehoch über 30 Prozent, "Sankt Martin" und Absturz auf 17 Prozent.

Erst dann, mit gehöriger Verspätung, tritt die neue Hoffnungsträgerin selbst auf die Bühne, ihre Stimme ist fast nicht mehr vorhanden. Sie krächzt, sie kommt auf ihre schweren Hüftprobleme mit 16 zu sprechen. Sie nutzt das Beispiel, um über das Pflegekapitel im von ihr mit CDU und CSU ausgehandelten Koalitionsvertrag zu sprechen. Wie wichtig es sei, 8000 neue Pfleger einzustellen. Das allein sei ein Grund zuzustimmen.

Es ist ein erster Stimmungstest für die 47-Jährige auf dem Weg bis zum 22. April, wo ein Sonderparteitag in Wiesbaden sie zur neuen SPD-Vorsitzenden wählen soll. Andrea Nahles setzt auf Attacke. Eine Kuschelkoalition wird es mit ihr nicht geben: "Die Göttinnendämmerung hat längst begonnen." Merkel werde angezählt von ihren Leuten - vor allem weil die Sozialdemokraten ihr sechs Ministerien mit einem Wahlergebnis von 20 Prozent abgetrotzt haben, darunter die Ressorts Außen, Finanzen und Arbeit/Soziales.

In diesem Stakkato geht es weiter. "Es war die härteste Nuss, die sachgrundlose Befristung", sagt die SPD-Fraktionschefin. "Wir haben dafür gesorgt, dass in 400.000 Fällen der sachgrundlosen Befristung auf einen Schlag die Grundlage entzogen wird." Nahles sei stolz darauf. "Ultralange Ketten" der Befristung gebe es nicht mehr, nur noch maximal fünf Jahre.

Viele der SPD-Mitglieder im Publikum sehen das anders, klatschen nicht. "Es ist beschämend, wenn wir weiter so unsoziale Politik machen", sagt ein 28-Jähriger aus Arnsberg weiter hinten im Saal. Vor drei Wochen ist er in die Partei eingetreten, nicht um nur mit Nein gegen die Groko zu stimmen, sondern weil er schon länger eintreten wollte. Mit Nein wird er trotzdem stimmen. Genau wie sein Tischnachbar aus dem Sauerland. Nahles-Fan, aber Groko-Gegner. "Ich will nicht, dass die SPD weiter mit der CDU die Arbeitgeberpolitik fortführt", sagt er.

Auch Ulrike Andreas vom Ortverband Recklinghausen ist nach Nahles Rede genauso wenig von ihr überzeugt wie vorher. "Die SPD hat bei den Koalitionsverhandlungen überhaupt nicht alles rausgeholt, was rauszuholen war", sagt Andreas. "Für die jungen Leute wird es weiter schwierig sein mit befristeten Verträgen. Wie soll so vernünftige Familienplanung möglich werden?"

Nahles kämpft. Sie betont, es sei in Zukunft einfacher, von Teilzeit wieder auf Vollzeit umzuschwenken. "Was wird aus Siggi?" fragt ein Genosse aus dem Saal. "Wird er wieder Pop-Beauftragter?". Nahles schweigt zum umstrittenen Sigmar Gabriel. Der hat sich beim zurückgetretenen Parteichef Martin Schulz für seine jüngste Attacke entschuldigt. Auch das verschweigt die designierte Parteichefin. Im "Freischütz", wo nach dem Zweiten Weltkrieg der Bezirk Westliches Westfalen neu gegründet wurde, startet Nahles' Mission Neustart, ohne auf Personen und Querelen zu achten.

Viele SPD-Mitglieder tendieren an diesem Abend zum Nein zur Groko. Ulrike Andreas will auf jeden Fall mit Nein stimmen. Ihr Ortsverbandskollege Siegfried Kasung will mit Ja stimmen. "Weil wir uns nicht aus der Verantwortung ziehen können", sagte er. "Und schließlich hat es die letzten acht Jahre ja auch relativ gut geklappt."

(eler)
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