Kanzlerin bei Anne Will Angela "merkelt" nicht mehr

Berlin · Flüchtlingswelle? Flüchtlingsstrom? Flüchtlingsproblematik? Nein, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht lieber von einer "außergewöhnlichen Situation". Mehr als 20 Mal ist der Begriff in ihrem Gespräch mit Polit-Talkerin Anne Will gefallen. Gemeinsam mit einem Kommunikationsexperten der Uni Münster haben wir das Auftreten der Kanzlerin analysiert.

Angela Merkel bei "Anne Will": Kanzlerin spricht in der ARD Klartext
Foto: dpa, mkx hpl

Sie hat nichts schön geredet und nichts dramatisiert. Stattdessen hat Angela Merkel einfach mal Klartext gesprochen. Live in der ARD, 60 Minuten lang (hier in der Mediathek). "Es ist schon lange her, dass sich Merkel so viel Zeit genommen hat, um ihre Politik zu erklären und um Vertrauen zu werben", sagt der Kommunikationswissenschaftler Felix Flemming.

Er forscht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und hat die Kanzlerin bei ihrem TV-Besuch genau beobachtet. "Der Begriff 'merkeln' ist ja nicht ohne Grund eines der beliebtesten Jugendworte des Jahres. Er steht dafür, keine Entscheidungen zu treffen und keine Äußerungen von sich zu geben. Genau das hat sie in den letzten zehn Jahren nämlich häufig gemacht", so Flemming. Doch das war am Mittwochabend anders.

Starke Ich-Zentrierung

Von der Alternativlos-Angela zur Klartext-Kanzlerin? In der laufenden Flüchtlingsdebatte zeigt Merkel ein neues Gesicht, sie menschelt. "Es gibt einen deutlich sichtbaren Bruch in ihrem Regierungs- und Kommunikationsstil", analysiert der Kommunikationswissenschaftler. "Los ging es mit ihrem Satz: 'Wir schaffen das.' Sie hat sich für ihre Verhältnisse politisch sehr früh festgelegt und bleibt diesem Kurs jetzt treu."

Angela Merkel geht selbst vor die TV-Kameras und schickt nicht ihren Regierungssprecher Steffen Seibert vor, wie bisher oft üblich. Diese Transparenz-Offensive überrascht. "Das Interview war ein Versuch Ehrlichkeit und Nähe zu vermitteln. Sie war sehr ehrlich. Das 'Ich' kam häufig vor. Sie hat sich als Kanzlerin in den Fokus gestellt — diese starke Ich-Zentrierung war auch eine kleine Machtdemonstration."

"Eine außergewöhnliche Situation"

Insbesondere rhetorisch unterscheidet sich Merkel stark von Politiker-Kollegen wie Seehofer und de Maizière. Die sprechen immer wieder von Flüchtlingswellen oder Flüchtlingsströmen. Die Kanzlerin dagegen nimmt diese wertenden Worte nicht in den Mund. Flüchtende Menschen sind schließlich nicht mit Umweltkatastrophen gleichzusetzen. Sie vermeidet konkrete Begrifflichkeiten und spricht stattdessen von einer besonderen Situation, einer außergewöhnlichen Situation.

Immer wieder "Situation". 22 Mal hat Angela Merkel am Mittwochabend davon gesprochen. Die außergewöhnliche Situation in Deutschland ist für die CDU-Chefin alternativlos. "Es kann sein, dass Berater ihr nahegelegt haben nicht von Strömen und Wellen zu sprechen. Gerade in der aktuellen Debatte ist es wichtig, die richtigen Worte zu finden", erklärt Felix Flemming. Neu und bemerkenswert sei aber vor allem die Art und Weise, wie Merkel ihre Inhalte in die Öffentlichkeit transportiert hat.

"Sie hat in der Flüchtlingsdebatte zum ersten Mal offen Haltung gezeigt und gemerkt, dass das bei vielen gut ankommt." Nach Einschätzung des Kommunikationswissenschaftlers der Uni Münster hat die Kanzlerin mit ihrer neuen Offenheit gepunktet. "Im Gegensatz zu Politikern wie Obama hat sich Merkel in der Vergangenheit zu selten die Zeit genommen, um ihre Politik direkt zu erklären. Ihr Interview mit Anne Will war gut und richtig."

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(RPO)
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