"Wir schaffen das" Stationen auf Merkels Weg zur Flüchtlingskanzlerin

Berlin · Kanzlerin Angela Merkel öffnete überraschend deutsche Türen und Herzen für Asylbewerber - und überforderte viele Bürger und auch Unionsmitglieder. Für ihr Mantra: "Wir schaffen das" erntet sie oft die Frage "Wie?". Hier sind die Stationen auf Merkels Weg zur Flüchtlingskanzlerin.

Flüchtlinge machen Selfies mit Angela Merkel
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Flüchtlinge machen Selfies mit Merkel

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Foto: dpa, bvj pil

24. April (Brüssel):

Die EU-Staats- und Regierungschefs kommen zu einem Sondergipfel zur Flüchtlingspolitik zusammen - und gehen mit enttäuschenden Ergebnissen wieder auseinander. Im Mittelmeer sind erneut Hunderte Flüchtlinge beim Versuch ertrunken, nach Europa zu kommen. Nun soll es mehr Geld und mehr Schiffe für die Seenotrettung geben, aber die heikle Frage der gerechten Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten wird vertagt. Merkel sagt, es werde am Geld nicht scheitern. Sie weiß längst, dass die EU keine andere Wahl hat. Entweder hilft sie diesen Menschen - oder sie kommen in die EU.

15. Juli (Rostock):

Merkel erlebt, was passiert, wenn Politik auf Individuen trifft. In Rostock erklärt sie dem Flüchtlingsmädchen Reem, dass Deutschland nicht alle Asylbewerber aufnehmen kann. Das Kind fängt an zu weinen. Merkel ist tief betroffen und möchte Reem trösten. Im Netz wird die Kanzlerin als eiskalt beschimpft. Genau das wollte sie nicht sein.

So reagierten Twitter-User auf Merkels Auftritt bei Anne Will
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Foto: dpa, mkx hpl

17. Juli (Berlin):

Merkel hat Geburtstag. Sie wird 61 Jahre alt. Eigentlich wollte sie an diesem Tag noch ihre traditionelle Pressekonferenz geben und danach in den Urlaub fahren. Doch der Bundestag kommt zu seiner Sondersitzung über die Griechenland-Hilfen zusammen. Ihren Pressetermin wird Merkel auf den 31. August verschieben - und das Land verändern. Das weiß sie da aber noch nicht.

25. August (Nürnberg):

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt bekannt, dass es das sogenannte Dublin-Verfahren für Syrer aussetzt. Das Verfahren sieht eine Rückführung von Flüchtlingen dorthin vor, wo sie zuerst EU-Boden betraten. Manche Unionspolitiker glauben an eine Panne. Aber Merkel sagt, das Dublin-Verfahren mache keinen Sinn, und verweist etwa auf das überforderte Griechenland. Im Netz wird sie bejubelt. Vor allem Syrer schicken ihr Liebesbotschaften.

27. August (Wien):

Die Westbalkan-Konferenz in Wien wird von einer grauenvollen Nachricht überschattet. Die Polizei hat im Burgenland auf einem Pannenstreifen der Autobahn A4 einen Kühllaster mit mindestens 50 toten Flüchtlingen entdeckt. Merkel ist die Fassungslosigkeit anzusehen. Sie sagt: "Wir sind alle erschüttert von der entsetzlichen Nachricht. (...) Das waren Menschen, die auf dem Weg waren, um mehr Sicherheit und Schutz zu suchen (...)." Sie bezeichnet die Tragödie als Mahnung an Europa, die Migrationsprobleme schnell und solidarisch anzugehen.
Am nächsten Tag korrigiert die Polizei Zahl der Toten: Es sind 71.

31. August (Berlin):

Merkel gibt auf ihrer nachgeholten Sommerpressekonferenz jede Zurückhaltung in der Flüchtlingspolitik auf. Sie spricht von einer "großen nationalen Aufgabe", will ein Ja der Bürger zu Mitgefühl und Hilfe, ein Nein zu Ausländerhass, mehr Flexibilität und Offenheit.

Angela Merkel besucht Flüchtlingsheim in Heidenau
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Merkel besucht Flüchtlingsheim in Heidenau

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Selbstbewusst und bestimmt sagt sie: "Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden." Der Satz bleibt: "Wir schaffen das." Merkel wirkt verändert. Das Land, ihre Union kennen sie so nicht: vorangehend, entschlossen, emotional. Ungarn lässt am selben Tag Hunderte Migranten gen Westen ausreisen und reicht damit das Flüchtlingsproblem an seine Nachbarn weiter.

2. September (Heidenau, Sachsen):

Ein Tag, der sich tief in Merkels Gedächtnis eingräbt. Erstmals in ihrer Kanzlerschaft überhaupt besucht sie ein Flüchtlingsheim. In Heidenau, Sachsen. Vor der Unterkunft haben sich Rechtsextremisten versammelt und beschimpfen die Kanzlerin auf das Übelste. "Volksverräter" grölen Männer und Frauen und: "Verpiss dich!". Merkel wirkt verstört und angewidert. Sie spricht nicht wie SPD-Chef Sigmar Gabriel von "Pack". Aber in dem Moment könnte sie es gedacht haben.

5. September (Berlin):

Die Lage in Budapest spitzt sich zu. Flüchtlinge werden schlecht versorgt, sie wollen nach Österreich oder Deutschland. Merkel befürchtet, dass es zu einer Tragödie kommt, wenn die ungarische Polizei mit den Tausenden zum Teil verzweifelten Menschen nicht mehr zurechtkommt. Gemeinsam mit Kanzler Werner Faymann entscheidet sie in der Nacht: Deutschland und Österreich nehmen in Absprache mit der ungarischen Regierung über eine Ausnahmeregelung Flüchtlinge auf. Demnach dürfen sie ohne bürokratische Hürden und Kontrollen einreisen. Bei ihrer Ankunft in Deutschland werden sie von vielen Bürgern bejubelt. Freudentränen fließen. CSU-Chef Horst Seehofer fühlt sich aber übergangen und warnt schon da vor Überforderung.

11. September (Düsseldorf):

Merkel sagt unserer Redaktion, dass sie gegen eine Obergrenze für die Zahl von Asylbewerbern ist, weil diese weder dem Grundgesetz entspreche noch sicher einzuhalten sei. Merkels Kritiker sehen darin eine weitere Einladung zur Flucht nach Deutschland.

Angela Merkel Adé: Asylbewerberin benennt ihre Tochter nach der Kanzlerin
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Asylbewerberin nennt ihre Tochter mit Vornamen Angela Merkel

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Foto: dpa, jst axs

12. September (Berlin):

Merkel führt die CDU länger als Konrad Adenauer, doch es wird nicht gefeiert. Bei einem Kongress ihrer Partei zur Digitalisierung wirkt sie besorgt und abgelenkt. Es regt sich Widerstand in der Union gegen ihre Politik - so stark wie noch nie in ihrer bald zehnjährigen Kanzlerschaft. In Ungarn halten Flüchtlinge Fotos von ihr in die Höhe und bitten sie um Hilfe. In Deutschland bitten Flüchtlinge Merkel um Selfies und schicken sie in die Heimat. Der Druck auf Merkel wächst.

13. September (Berlin):

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) verkündet, dass Deutschland wegen des Flüchtlingsandrangs wieder Grenzkontrollen einführt. Merkel selbst tritt nicht auf. Viele fragen sich, ob sie nun einknickt.

15. September (Berlin):

Merkel sagt noch so einen denkwürdigen Satz. Es geht um die Kritik an ihrer Linie. Und sie antwortet spontan: "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Manch einer glaubt, hier eine Rücktrittsdrohung gehört zu haben. Das bestreitet Merkel später. Sie wolle nur, dass die Bürger wissen, wer ihre Kanzlerin ist. Jetzt wissen sie es.

23. September (Brüssel):

Beim Sondergipfel in Brüssel beschließen die EU-Staats- und Regierungschefs eine Milliarden-Aufstockung der Flüchtlingshilfe, eine Verteilung von 160.000 Flüchtlingen, eine bessere gemeinsame Außengrenzsicherung und die Einrichtung von Registrierungszentren ("Hotspots") in Italien und Griechenland. Doch es sieht noch nicht nach großer Entlastung für Deutschland aus, wo inzwischen von mehr als 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr die Rede ist.

24. September Bund-Länder-Gipfel (Berlin):

Der Bund stockt die Hilfe für Flüchtlinge massiv auf und entlastet so Länder und Gemeinden, der Umgang mit Asylbewerbern soll massiv verschärft, der Kreis der sicheren Herkunftsstaaten erweitert werden. Merkel hat wieder einmal kaum geschlafen. Um 3.30 Uhr war sie aus Brüssel zurück, um 9 Uhr hielt sie im Bundestag eine Regierungserklärung zum UN-Nachhaltigkeitsgipfel in New York, zu dem sie am späten Abend aufbricht. Dass es beim Bund-Länder-Gipfel nicht zur Nachtsitzung kam, liege daran, dass die Ministerpräsidenten gut bedient wurden und Merkel hätten gehen lassen, wird im Regierungsflieger gescherzt.

25. bis 27. September (New York):

Wo Merkel bei den Vereinten Nationen auch auftaucht, wird sie von Diplomaten umringt. Auch sie wollen Selfies mit der Kanzlerin. Fotografen ziehen Parallelen zu Popstars. U2-Sänger Bono schwärmt, eine solche Führungspersönlichkeit habe die Welt lange nicht erlebt.

7. Oktober (Berlin):

Merkel beantwortet der TV-Journalistin Anne Will Fragen zur Lage der Nation. Merkel wankt nicht. Es bleibt dabei: "Wir schaffen das." Sie wirkt, als sei sie bereit, ihr Amt dafür zu riskieren.

9. Oktober (München):

Bayern droht Merkel mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, um eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen durchzusetzen, sollte Berlin nicht selbst die Initiative ergreifen. Seehofer treibt Merkel seit Wochen vor sich her, provoziert sie mit der Einladung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und verlangt von ihr ein Signal, dass die Aufnahmekapazitäten begrenzt seien. Er bekommt es nicht.

13. Oktober (Berlin):

Merkel wirkt von dem CSU-Vorschlag nach Einrichtung von Transitzonen nicht überzeugt, sperrt sich aber nicht. Die Folge: Seehofer strahlt, Gabriel kocht. Unionsabgeordnete verlangen ein schärferes Vorgehen an der deutschen Grenze. "Wir dürfen nicht die weiße Fahne hissen", fordert der ehemalige Polizist Clemens Binninger. Merkel warnt vor dem Signal an Flüchtlinge, dass Deutschland bald die Grenzen dicht mache. Dann versuchten sie erst recht noch rechtzeitig reinzukommen.

Auseinandersetzungen zwischen Kanzlerin und Fraktionsmitgliedern sind selten, deswegen sind Unionspolitiker oft erschrocken darüber. Bei der Griechenland-Rettung folgten Merkel im Juli 65 von 311 eigenen Abgeordneten nicht. Und am Mittwoch sank die Union auf 38 Prozent in einer neuen Umfrage (2013: 41,5). Was für andere Parteien Traumverhältnisse wären, ist für die Union ein Problem. Fragen nach einem Nachfolger für Merkel werden aber auch in dieser Phase nicht aufgeworfen. Es gebe keine Alternative zu ihr, heißt es weiterhin. Das Asylpaket, das am Donnerstag im Bundestag verabschiedet werden soll, wird von der Fraktion gebilligt - einstimmig.

15. Oktober (Berlin/Brüssel):

Der Kanzlerin steht wieder ein langer Tag und eine Nachtsitzung bevor. Am Morgen gibt es so etwas wie ein Fern-Duell mit Seehofer - die Kanzlerin hält eine Regierungserklärung im Bundestag, der bayerische Ministerpräsident im Landtag, danach fliegt Merkel zum EU-Gipfel nach Brüssel. Sie wird wieder werben: "Wir schaffen das." Ein Zurück gibt es für sie auch nicht mehr.

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(dpa)
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