Analyse nach den Anschlägen von Brüssel Wie der belgische Staat versagt

Düsseldorf · Das belgische Chaos ist legendär und gehört schon fast zur europäischen Folklore. Doch nun bedroht das Staatsversagen im Herzen Europas uns alle. Belgien liefert Anschauungsunterricht darüber, welche Folgen die versäumte Integration von Einwanderern hat.

Der Brüsseler Problem-Stadtteil Molenbeek
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Der Brüsseler Problem-Stadtteil Molenbeek

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Foto: afp, ed/nb

In Belgien schlägt das Herz Europas. Die europäischen Institutionen haben ihren Sitz in Brüssel, die Nato hat hier ihr Hauptquartier. Aber schon einige Meter weiter, wenn es um die Politik des Landes geht, wird deutlich, wie stark die Partikularinteressen sind, wie groß das Kompetenzwirrwarr.

Belgien ist das Land, wo schon mal Züge entgleisen, weil flämische und wallonische Eisenbahner nicht miteinander reden können - oder wollen. Ist Belgien überhaupt noch ein Staat? Selbst viele Belgier haben da so ihre Zweifel.

Lange konnte man dieses belgische Chaos und die bizarren Eifersüchteleien zwischen den Sprachgruppen außerhalb Belgiens amüsiert zur Kenntnis nehmen. Immerhin gab es ja auch noch Fritten und Pralinen. Doch seit das Staatsversagen im Herzen Europas uns alle bedroht, wird der Ton schärfer.

"Die Naivität der Belgier hat uns 130 Menschenleben gekostet", empörte sich der konservative französische Abgeordnete Alain Marsaud mit Blick auf die November-Attentate in Paris. Und das Nachrichtenmagazin "Le Point" setzte vor wenigen Tagen die belgische Justiz ganz unverhohlen mit einem enthüllenden Bericht über Verstecke der gesuchten Terroristen in Brüssel unter Druck. Nicht nur in französischen Medien ist schon lange von "Belgistan" die Rede.

Keine Frage: Belgien ist heute Europas Brutstätte des islamistischen Terrors: Aus keinem anderen Land ziehen umgerechnet auf die Einwohnerzahl so viele junge Menschen in den Dschihad nach Syrien. Aus dem inzwischen berüchtigten Brüsseler Vorort Molenbeek stammten nicht nur fast alle der Pariser Attentäter und deren Hintermänner, sondern gleich eine ganze Generation von Terroristen.

Angefangen mit Abdessatar Dahmane, der im Auftrag der Taliban 2001 in Afghanistan Ahmed Schah Massud, den "Löwen von Pandschir", ermordete. Oder Hassan al Haski, der mutmaßliche Drahtzieher der Attentate von Casablanca (2003) und Madrid (2004) mit zusammen 241 Todesopfern. Aus Molenbeek stammte auch Mehdi Nemmouche, der 2014 ein Blutbad im Jüdischen Museum von Brüssel anrichtete, ebenso wie Ayoub al Khazzani, dem im vergangenen Jahr beinahe dasselbe in einem Thalys-Schnellzug gelungen wäre.

Inkompetenz und Desinteresse

Razzia in Brüssel - Salah Abdeslam gefasst
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Razzia in Brüssel - Salah Abdeslam gefasst

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Foto: ap

Wie konnte es so weit kommen? Durch eklatante Inkompetenz, vor allem aber auch durch schreckliches Desinteresse. In einem Land, das vor allem mit seinen kleinlichen Streitereien beschäftigt ist, das ständig über sein baldiges Auseinanderbrechen nachdenkt und schon mal 541 Tage benötigt, um eine neue Regierung zu bilden, hat man sich nicht intensiv genug um die Integration der Einwanderer gekümmert. Prompt sind in Orten wie Molenbeek nicht nur Parallelgesellschaften, sondern ganze Paralleluniversen entstanden.

Der dicht besiedelte 100.000-Einwohner-Vorort von Brüssel ist mittlerweile berühmt-berüchtigt. 80 Prozent der Menschen dort haben einen Zuwanderungshintergrund, stammen meist aus Marokko. Die Arbeitslosenquote liegt über 30 Prozent, bei den Jugendlichen ist sogar fast jeder zweite ohne Job. Es gibt vier offizielle Moscheen, in denen jeden Freitag das friedliche Zusammenleben gepredigt wird. Aber daneben auch 18 inoffizielle Gebetsräume, in denen viel die Rede vom Krieg gegen die Ungläubigen ist.

Schon vor zehn Jahren recherchierte eine junge belgische Journalistin marokkanischer Abstammung zwei Monate lang undercover das Milieu in Molenbeek. Sie beschrieb eine Welt, in der sich nur die wenigsten Bewohner als belgische Bürger fühlen, wo arabisches Satellitenfernsehen die Informationen liefert und die frustrierten Jugendlichen ohne jede Perspektive für ihr Leben zur leichten Beute islamistischer Prediger werden.

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Foto: qvist /Shutterstock.com/Retusche RPO

Die Behörden nahmen den Bericht zur Kenntnis - und taten nichts. Dieses Versagen bei der Integration von Einwanderern und ihrer Kinder ist in Europa gewiss nicht auf Belgien beschränkt. Statistiken der Industrieländerorganisation OECD zufolge sind die Zahlen für andere Länder mit starker muslimischer Zuwanderung wie etwa Frankreich genauso schlecht.

Nur kommt in Belgien noch die fatale Zersplitterung des Sicherheitsapparats hinzu. So hat der Großraum Brüssel mit seinen rund 1,2 Millionen Einwohnern insgesamt sechs konkurrierende Polizeibehörden. Städte wie New York oder Paris haben zehnmal so viele Einwohner, aber nur einen Polizeichef.

Belgien verfügt zudem über vier Geheimdienste, die Bundespolizei, das Krisenzentrum der Regierung, einen parlamentarischen Kontrollausschuss, den Nationalen Sicherheitsrat sowie die Königliche Staatsanwaltschaft. Im vergangenen Sommer wurde mit der Strategischen Koordinationsstelle für Sicherheit dann noch ein zehntes Gremium ins Leben gerufen, das zwischen den anderen Stellen vermitteln soll.

So hat es Experten auch nicht sehr erstaunt, dass bei den letzten Anti-Terroreinsätzen der Belgier stets auch französische Beamte mit im Einsatz waren. In Paris hat man offenbar beschlossen, dass man die belgischen Kollegen besser an die Hand nehmen muss.

(RP)
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