Grundgesetz Wir müssen endlich über direkte Demokratie reden

Meinung | Berlin · Schlummert im Grundgesetz ein vergessenes Instrument der direkten Demokratie? Der gewichtige Artikel 20 spricht vollmundig von "Wahlen und Abstimmungen". Die Interpretation aber richtet sich nach dem Zeitgeist. Ein Plädoyer für eine ehrliche Debatte.

 Bedeutet mehr Volkssouveränität automatisch weniger Macht für das Parlament?

Bedeutet mehr Volkssouveränität automatisch weniger Macht für das Parlament?

Foto: dpa, Maurizio Gambarini

Das Prinzip der Volkssouveränität ist eine Errungenschaft. Es besagt, dass jede Form von Herrschaft in Deutschland vom Volk legitimiert ist. Strafzettel fürs Falschparken, Steuerbescheide, Gerichtsurteile - all das muss auf den Souverän zurückzuführen sein. Und der Souverän, das sind wir: das Volk. Einer der vornehmsten Artikel des Grundgesetzes postuliert die Volksherrschaft: Artikel 20. Es kann einem warm ums Herz werden, wenn man diese kräftigen Sätze liest, die daherkommen wie Banalitäten und doch das Fundament der Gesellschaft bilden.

Die Debatte ist elitär

Nach der Abstimmung über den "Brexit" begann wieder die Diskussion über direkte Demokratie. Sollte der Souverän über bedeutsame Fragen entscheiden dürfen? Die Debatte über Volksabstimmungen in Deutschland war und ist elitär: Die Tragweite des britischen Referendums zeige doch, dass es gefährlich wird, wenn man das Volk befragt, heißt es. Die Furcht vor "dem Volk" setzt man in Gegensatz zur Wertschätzung "der Bürger". Singular gegen Plural - als seien das zwei verschiedene Massen.

Volksherrschaft aber heißt: Die Macht des Volkes muss kanalisiert werden. Sie ist nicht einfach da und bahnt sich ihren Weg. Es ist ein komplizierter Prozess von der Willensbildung des Volkes über die Bündelung dieses Willens zur Umsetzung. Das Standardverfahren ist die Wahl. Bundes-, Land- oder Kreistag, Stadtrat und Bezirksvertretung wählen wir. Die Wahl erscheint uns selbstverständlich und gewöhnlich. So gewöhnlich, dass die Wahlbeteiligung im Bund von 82,2 Prozent im Jahr 1998 auf zuletzt 71,5 (2013) gesunken ist. Vor allem erscheint die Wahl als das einzige Instrument der Herrschaftsausübung.

Ist die Debatte falsch?

Doch das ist ein Missverständnis. Artikel 20 kennt nicht nur die Wahl. Er spricht vollmundig und gleichberechtigt von Abstimmungen. Was also wäre, wenn die Diskussion um direkte Demokratie in Deutschland bisher von einer falschen Prämisse ausgegangen ist? Wenn nicht die Frage des Ob, sondern nur die Frage des Wie vom Grundgesetz offengelassen worden wäre? Und die Verfassung sogar den Auftrag enthielte, dem Volk regelmäßig oder gelegentlich Fragen zur Abstimmung vorzulegen?

Hans Meyer, Staatsrechtler und früherer Präsident der Berliner Humboldt-Universität, vertritt diese These seit Jahrzehnten. In der "Juristenzeitung" schrieb er 2012: "Es handelt sich um einen selbstverständlichen Verfassungsauftrag an das Parlament, die Möglichkeit zu schaffen, das Instrument zu nutzen." Will heißen: Der Gesetzgeber sei verpflichtet, eine Regelung für Volksabstimmungen zu verabschieden. Meyer hält es für einen Irrglauben, dass das Grundgesetz eine rein repräsentative Demokratie vorsieht. Es gibt gewichtige Argumente für seine These.

"Es schreit nach einer Klarstellung"

Der Status quo in den Bundesländern spricht dafür. In sämtlichen Länderverfassungen ist, freilich in unterschiedlicher Ausprägung, Volksgesetzgebung vorgesehen. Alle 16 Länder kennen direkte Demokratie, der übergeordnete Bundesstaat aber nicht? Das würde bedeuten, dass Bund und Länder verschiedene Demokratiebegriffe zugrundelegen. Und das ist ausgeschlossen -und sogar verboten. Entweder sind also sämtliche Länderverfassungen grundgesetzwidrig oder aber das Grundgesetz selbst. Im Zusammenhang mit den Ländern spricht die Verfassung auch das einzige Mal von einer bundesweiten Volksabstimmung, nämlich bei der Neugliederung des Bundesgebietes. Dieser Fall scheint so wichtig zu sein, dass hierfür der Souverän persönlich befragt werden soll. Etwa dann, wenn Bundesländer verschmelzen sollen.

Der Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza sagt: "Es schreit seit Jahrzehnten nach einer Klarstellung in dieser Frage." Die könnte nur das Bundesverfassungsgericht aussprechen, das sich aber in absehbarer Zeit nicht mit damit befassen wird. Pestalozza sagt: "Artikel 20 weckt beim Leser eine falsche Erwartung." Weil das Recht hinter den eigenen Anforderungen zurückbleibe und kein Gesetzgeber bisher den Willen gezeigt hat, etwas zu ändern.

Nicht mehr auf Weimar gucken

Das Grundgesetz kennt darüber hinaus die Ewigkeitsklausel. In Artikel 79 Absatz 3 heißt es, dass die Menschenwürde aus Artikel 1 und die rechtsstaatlichen Grundsätze aus Artikel 20 niemals geändert, geschweige denn abgeschafft werden dürfen. Es ist der größtmögliche Schutz, den eine Norm bekommen kann. Ausgerechnet unter diesem Schutz steht die Formulierung der "Wahlen und Abstimmungen".

Stets heißt es, das Grundgesetz kenne keine direkte Demokratie, weil die Weimarer Republik nicht zuletzt daran gescheitert sei. "Weimar wird immer als Horrorbild gezeichnet", sagt etwa der Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier. In diesem Zusammenhang von negativen Weimarer Erfahrungen zu sprechen sei "wenig reflektiert", meint Dreier. Es hat damals drei Volksbegehren gegeben, von denen zwei Volksentscheide wurden. Beide scheiterten.

Die Frage nach dem Zeitgeist

Natürlich gibt es Hindernisse und Unklarheiten. Die Frage, warum das Grundgesetz ausführliche Regeln zur Bundestagswahl, aber keine zur Abstimmung enthält. Oder den Artikel 76, der bestimmt, dass Gesetzesvorlagen beim Bundestag und vom Bundestag eingebracht werden - und nicht etwa vom Volk. Der in Berlin lehrende Staatsrechtler Christoph Möllers meint: "Mir scheint, dass jede Form von Plebiszit sofort in Konkurrenz zum Bundestag und seinen Verfahren geraten würde und daher in der Verfassung geregelt werden muss." Er wendet sich damit allerdings nicht gegen die Lesart, dass Artikel 20 zu direkter Demokratie einlade.

Der Zeitgeist diktiere die Verfassungslage, schreibt Hans Meyer. Die seit Jahren geführte Debatte um Volksabstimmungen führt regelmäßig am zentralen Gebot des Grundgesetzes vorbei. Es gibt eine erstaunliche Menge an Ausreden, warum die berühmten "Mütter und Väter" des Grundgesetzes (vier von 61 Mitgliedern im Parlamentarischen Rat waren weiblich) das mit den "Abstimmungen" in Artikel 20 angeblich nicht ernst gemeint hätten.

Wann und in welchen Fällen das Volk selbst entscheiden soll, sagt uns das Grundgesetz zwar nicht. Es ist dies genau die Debatte, die wir aber lebhaft führen sollten. Die Verfassung kennt die Denkverbote nicht, wie uns manch Kritiker der direkten Demokratie weismachen will. Wir sollten aufhören, uns in die Tasche zu lügen - und anfangen, über den Inhalt von Artikel 20 zu sprechen. Alles andere verhöhnt das Prinzip der Volkssouveränität.

(her)
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