Vertriebene BdV hat nur noch rund 550.000 Mitglieder

Berlin/Bonn (RPO). Allein unter dem Dach des Bundesverband der Vertriebenen (BdV) sollen nach Angaben von Funktionären gut zwei Millionen Menschen organisiert sein. Doch eine Umfrage bei allen Landesverbänden außer Mecklenburg-Vorpommern ergab: Unter dem Dach des BdV mit all seinen landsmannschaftlichen Vereinigungen, Kreis- und anderen Verbänden sind nur rund 550.000 Mitglieder organisiert.

Der Bundesverband der Vertriebenen (BdV) gibt sich im Streit um die Besetzung des Beirats der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" seit Monaten selbstbewusst und hart. Erst sollte die Bundesregierung der Berufung Erika Steinbachs (CDU) zustimmen.

Nach langem Streit erklärte sich der BdV nun bereit, auf Steinbachs Nominierung zu verzichten. Dafür allerdings müsse der Verband mehr Sitze erhalten, der politische Einfluss auf die Stiftung abgeschwächt werden. Steinbachs wichtigstes Druckmittel gegenüber der Politik sind die vielen Vertriebenen, als deren Vertreter sie den BdV darstellt.

Doch die von dern Nachrichtenagentur ddp ermitelten Zahlen sagen da etwas anderes aus. Für Matthias Stickler, der als Privatdozent Zeitgeschichte an der Universität Würzburg lehrt, sind diese Zahlen "keine Überraschung". Der Historiker, der seine Habilitationsschrift zur Geschichte der Vertriebenenverbände verfasst hat, sagt: "Es mag zwar noch eine gewisse Dunkelziffer geben. Aber das Ergebnis der Nachfrage deckt sich mit meinen Schätzungen. Die Daten spiegeln das Aussterben der sogenannten Erlebnisgeneration wider."

Mehr als zehn Millionen nach dem Krieg

Damit geht ein wichtiger Abschnitt der deutschen Nachkriegspolitik langsam zuende. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vertriebenen lange Zeit eine einflussreiche Gruppe. Schon bei einer vom Alliierten Kontrollrat 1946 durchgeführten Volkszählung wurden rund zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene im Vierzonendeutschland gezählt.

Die Zahl stieg später noch an. Die Menschen stammten vor allem aus den deutschen Ostgebieten, die durch das Potsdamer Abkommen von 1945 unter die Verwaltung Polens beziehungsweise der UdSSR gestellt worden waren, aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und dem Baltikum.

Viele Betroffene organisierten sich: Es entstanden seit 1948 gewerkschaftsähnlich arbeitende Landesverbände sowie die gemeinsame Herkunft betonende Landsmannschaften wie etwa der Bund der Danziger. Die stärksten Verbände stellten Schlesier und Sudetendeutsche.

Die Organisationen waren Anlaufstelle, boten Lebenshilfe, ermöglichten die Pflege der Tradition und ermöglichten den Austausch mit Schicksalsgenossen. Ein umfassender Dachverband entstand erst 1958/59 mit dem BdV. Als dieser am 14. September 1960 beim Amtsgericht Bonn angemeldet wurde, hatte alleine der Landesverband Bayern 350.000 Mitglieder.

Oft misstrauisch beäugt

Wegen ihrer jahrelangen Forderungen nach Rückgabe der ehemals deutschen Gebiete, wurden die Vertriebenenverbände oft misstrauisch beäugt. Nach Ansicht Sticklers haben sie aber durchaus auch positiv gewirkt: "Diese Verbände haben es maßgeblich dazu beigetragen, ihre Klientel in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren. Diese Menschen hätten sich in den frühen Nachkriegsjahren ja auch radikalisieren können. Dass sie es nicht getan haben, ist auch der Arbeit des BdV und seiner Mitgliedsverbände zu verdanken."

Die organisierten Verbände waren die eine Quelle des BdV-Einflusses. Die andere waren die vielen Vertriebenen, die sich politisch engagierten. Da die Alliierten nach dem Krieg die Gründung von Vertriebenenparteien zunächst nicht zuließen, strömten Schlesier, Sudetendeutsche und ihre Schicksalsgenossen in die bestehenden Parteien.

Davon profitierten nicht nur CDU und CSU, sondern auch die SPD. "Zahlreiche Flüchtlinge hatten in ihrer alten Heimat auch politischen Parteien angehört. Viele Sudetendeutsche etwa waren alte Sozialdemokraten. Nach 1945 wurden zahlreiche SPD-Gliederungen in Altbayern deshalb von Sudetendeutschen gegründet", erklärt Stickler. Die Bundes-SPD hatte zeitweise sogar ein eigenes Vertriebenenreferat.

Überalterung war unübersehbar

Diese Verflechtung mit den großen Parteien ist ein wichtiger Grund für den anhaltenden politischen Einfluss des BdV. Dabei begann schon Ende der fünfziger Jahre ein Schrumpfungsprozess. Die Funktionäre der ersten Stunde kamen in die Jahre, die Überalterung war unübersehbar. Der langjährige Präsident der Landsmannschaft Schlesien, der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Hupka, sagte dem Spiegel 1985, dass "jährlich zwei Prozent sterben".

Heute spricht der stellvertretende BdV-Generalsekretär Klaus Schuck offen über die Alterungsprobleme im Verband. Es gebe viel mehr Alte als Junge. Die Zusammensetzung der Mitgliedschaft gleiche einem auf der Spitze stehenden Dreieck, sagte Schuck der NachrichtenagenturAuf die Frage nach der Mitgliederzahl, verweist er auf die komplizierte Struktur des BdV mit seinen 16 Landesverbänden und 21 Landsmannschaften, die weitere Untergruppierungen haben und teilweise parallel organisiert sind. "Ganz grob aber", sagt Schuck, "sind unter dem BdV gut zwei Millionen Menschen organisiert."

NRW stellt den größten Landesverband

Das deckt sich nicht mit den Angaben der Landesverbände. Der Geschäftsführer des Landesverbands Nordrhein-Westfalen, Markus Patzke, etwa sagte der Nachrichtenagentur ddp: Einschließlich der 59 Kreisverbände, 14 Landsmannschaften und vier außerordentlichen Verbände "gehen wir ganz grob von rund 200.000 bis 230.000 Mitgliedern aus". NRW stellt den größten Landesverband.

In Bayern ist die Mitgliederzahl von einst 350.000 auf höchstens noch 150.000 zurückgegangen. Relativ groß ist auch noch der Bestand in Baden-Württemberg. Dort schätzen Funktionäre die Zahl der unter dem Dach des BdV organisierten Vertriebenen auf rund 40.000. Am unteren Ende stehen Landesverbände mit rund 500 (Saarland) oder 2000 (Schleswig-Holstein) Mitgliedern. Insgesamt kommt eine Zahl von knapp 550.000 Mitgliedern zusammen.

Interesse für Schlesien reicht aus

Den Negativtrend zeigen auf Internetseiten von Vertriebenorganisationen zahlreiche Meldungen über aufgelöste Verbände oder Mitgliederrückgänge. Zur Landesdelegiertentagung der Landsmannschaft Schlesien in Baden-Württemberg im Frühjahr 2009 etwa heißt es: Es bestünden noch 29 Gruppen, zwei Ortsgruppen seien im Jahr 2008 aber "eingebüßt" worden.

Die Mitgliederzahl habe "im Durchschnitt der letzten Jahre um 7,5 Prozent abgenommen". Die Verbände haben sich deshalb geöffnet. Mitglied werden können längst nicht mehr nur Vertriebene und deren Angehörige. Es reicht, sich für Schlesien oder eine der anderen Herkunftsregionen von Vertriebenen zu interessieren. Ohne diese Öffnung, sagt Stickler, "wäre die Mitgliederzahl vermutlich noch spürbar geringer".

Bei manchen aus der Erlebnisgeneration mischen sich inzwischen Wut und Resignation. Der stellvertretende Vorsitzende des Landesverbands Rheinland-Pfalz, Nikolai Karheiding, beklagt dabei die Rolle der Politik. "Uns wurde vor Jahren die Förderung gestrichen. Wir arbeiten alle nur noch ehrenamtlich von Privathäusern aus, fast wie eine Art Untergrundbewegung", sagt er.

Dass der geschrumpfte Verband vor allem von den Unions-Parteien weiter gepflegt wird, wundert Stickler nicht: "Die zahlenmäßige Bedeutung der Vertriebenen mag stark zurückgegangen sein. Aber bei Landtagswahlen, in denen CDU und CSU mit einem knappen Ergebnis rechnen und um jede Stimme kämpfen müssen, stellen die BdV-Mitglieder immer noch ein wichtiges mobilisierbares Potenzial dar."

(DDP/csr)
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