Ex-SPD-Chef hält dennoch Rede Bei Montagsdemo: Ein Ei für Lafontaine

Leipzig (rpo). Soll Oskar Lafontaine auf der Leipziger Anti-Hartz-Demonstration das Wort ergreifen oder nicht? Schon im Vorfeld war der Auftritt des früheren SPD-Vorsitzenden heftigst umstritten. Und kaum erschien der "Napoleon von der Saar" am Montagabend im Kreise der Protestler kam auch schon das erste Ei geflogen. Derweil übten etliche Politiker Kritik an Lafontaine.

Proteste gegen Hartz IV
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Das Geschoss soll den Politiker an der Schulter getroffen haben, wie Augenzeugen berichteten. Geworfen worden war das Ei von einem etwa 45 bis 50 Jahre alten Mann, der Lafontaine vorwarf, die Gesellschaft zu spalten. Der Täter wurde vorläufig festgenommen. Trotz des Vorfalls an der Leipziger Nikolaikirche nahm Lafontaine an der Leipziger Montagsdemonstration teil, zu der am frühen Abendrund 25.000 Menschen in der Innenstadt zusammengekommen waren. Von den Demonstranten wurde Lafontaine sowohl mit vielen Pfiffen als auch mit Applaus empfangen. Der Auftritt des ehemaligen SPD-Chefs war mit großer Spannung erwartet worden. Politiker von SPD und CDU hatten die Teilnahme an der Kundgebung gegen die Arbeitsmarktreformen scharf kritisiert.

Dessen ungeachtet hat Lafontaine hat mit scharfen Worten die Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung angegriffen. Rundum teilte der Saarländer in seiner Rede aus, verdammte Hartz IV und die Agenda 2010 und wusste dabei seine nach Veranstalterangaben rund 60.000 Zuhörer schließlich auf seiner Seite. Ein Appell solle ausgehen von Leipzig nach Berlin, meinte Lafontaine und sagte auch gleich, wie dieser zu lauten hätte: "Stoppt diese Politik!" Und aus tausenden Kehlen hallte es zurück: "Schröder muss weg!" Doch Lafontaine wollte seine Ansprache nicht allein als Kritik an Rot-Grün verstanden wissen. Auch die Opposition habe vor der Bundestagswahl Entlastung für die Familien versprochen, schließlich aber dazu beigetragen, dass die Hartz-Gesetze sogar noch verschärft worden seien.

Der Regierung warf der Saarländer vor, sie übe Druck auf die Arbeitslosen aus. "So etwas zu tun, wenn gar keine Arbeitsplätze vorhanden sind, das ist doch völlig daneben", so Lafontaine. Vor den Demonstranten formulierte er seine Vorschläge zur Reform des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes. "In einem Sozialstaat, so wie ich ihn mir vorstelle, müssen alle in die Versicherungssysteme einzahlen, also auch die Besserverdienenden und Vermögenden." Der Sozialstaat Bismarckscher Prägung, in dem Sozialsysteme Versorgungskassen gewesen seien, in die lediglich die Arbeitnehmer eingezahlt hätten, diesen Sozialstaat dürfe es nicht mehr geben.

Lafontaine fordert Konjunkturprogramm

Lafontaine setzte sich in seiner Ansprache erneut für ein Konjunkturprogramm ein. Damit könnten die Wirtschaft angekurbelt und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Außerdem sei die Diskussion um die angeblich mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands eine Scheindebatte: Als Exportweltmeister dürfe Deutschland nicht lamentieren. Das sei gerade so, als ob ein Goldmedaillengewinner aus Athen zurückkehre und behaupte, er sei chancenlos. Zugleich verurteilte Lafontaine die Diskussion um längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn. "Die ist lediglich dazu da, um Lohnkürzungen durchzusetzen." Wenn man so wie Bundesregierung und Opposition Opfer verlange, dann sollten diese auch gerecht verteilt sein. Opfer solle man von denen mit großem Vermögen fordern und nicht immer von den Rentnern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern. Lafontaine nannte es "unerträglich", dass der Spitzensteuersatz gesenkt werden soll.

Der frühere SPD-Vorsitzende, der 1999 als Bundesfinanzminister zurückgetreten war, warnte die Teilnehmer der Montagsdemonstration in Leipzig davor, sich in eine Ost-West-Debatte verwickeln zu lassen. "Die Trennung in Deutschland verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Arm und Reich", rief er aus. In Anlehnung an ein Wort des früheren SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzlers Willy Brandt sagte Lafontaine: "Lasst uns mehr Demokratie wagen, lasst uns mehr soziale Demokratie wagen."

Lafontaines Teilnahme an der Demonstration war im Vorfeld heftig umstritten. Mehrere führende Köpfe der Montagsdemonstrationen der Vergangenheit, darunter Nikolai-Kirchen-Pfarrer Christian Führer sowie Vertreter des Leipziger Sozialforums, hatten ein Rederecht für Politiker im Rahmen der Proteste mehrfach vehement abgelehnt. Die Demonstrationen drohten damit parteipolitisch instrumentalisiert zu werden, argumentieren sie. Ein Teil von ihnen, darunter Führer sowie der Landesbischof, wollte daher nach eigenem Bekunden am Montag nicht mitmarschieren.

Zwei Protest-Züge durch Berlin

Gegner der Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung sind am Montag in Berlin erneut auf die Straße gegangen. Nach Polizeiangaben nahmen am frühen Abend insgesamt etwa 1700 Menschen an den Protesten teil. Wie in der vergangenen Woche gab es zwei Demonstrationszüge. Vom Roten Rathaus bis zur SPD-Zentrale in Kreuzberg sollte der Marsch des Aktionsbündnisses "Weg mit Hartz IV" führen. Das "Bündnis Montagsdemo gegen Agenda 2010" hatte seinen Protestzug vom Alexanderplatz bis zum Halleschen Tor angemeldet.

Zur Auftaktveranstaltung des Aktionsbündnisses am Roten Rathaus waren laut Polizei rund 1000 Menschen erschienen. Auf Plakaten war unter anderem zu lesen "Agenda 2010 und Schröder müssen gehen" oder "'Hartz IV' stoppen - jetzt". Der Chef des Berliner Behindertenverbandes, Ilja Seifert, bezeichnete die geplanten Ein-Euro-Jobs als "Form der Zwangsarbeit". Er übte Kritik an den Funktionären von Wohlfahrtsverbänden, die diese Jobs zur Verfügung stellen wollten. PDS-Landes- und -Fraktionschef Stefan Liebich wollte diesmal aus Termingründen nicht an den Protesten teilnehmen. An dem Zug zum Halleschen Tor beteiligten sich 500 bis 700 Gegner der Reformen.

Den Veranstaltern der beiden Berliner Montagsdemonstrationen war es nicht gelungen, den Protest gegen "Hartz IV" gemeinsam zu organisieren. Sascha Kimpel, Sprecher des Aktionsbündnisses, forderte im Vorfeld erneut die "Einigung aller, die gegen 'Hartz IV' sind". Einen ähnlich lautenden Appell hatte es von den Veranstaltern des anderen Zuges gegeben.

Starker Protest-Zulauf

Starken Zulauf hatten die Demonstrationen erneut auch in Sachsen-Anhalt. In Magdeburg schätzte die Polizei die Zahl am frühen Abend auf 6.000, in Dessau auf 2.500, in Halle sprachen die Veranstalter von 3.500. In Berlin nahmen nach Angaben der Polizei insgesamt etwa 4.200 Menschen an Demonstrationen teil. Ein Protestzug zur SPD-Parteizentrale zählte demnach 3.400 Teilnehmer, ein zweiter etwa 800.

In Mecklenburg-Vorpommern sprach die Polizei von 2.000 Demonstranten in Schwerin, 1.500 in Rostock und 1.000 in Stralsund. In Thüringen waren es laut Polizei mindestens 4.000, darunter 2.000 in Gera. Im Westen waren die Proteste wie auch in den vergangenen Wochen weitaus weniger gut besucht. Die meisten Teilnehmer wurden aus Köln gemeldet, wo die Polizei 700 zählte.

Im sächsischen Stollberg wurden 1.100 Demonstranten registriert, in Eisenach waren es laut Polizei 350, im brandenburgischen Eberswalde 300. Vor einer Woche waren insgesamt mehr als 80.000 Menschen auf die Straße gegangen. Bundesweit waren nach Angaben des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac 185 Demonstrationen angemeldet.

Kritik am "Napoleon von der Saar"

Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller warf Lafontaine im gleichen Sender dagegen Verantwortungslosigkeit und Demagogie vor. "Er taugt allenfalls dazu, demagogische Beiträge zu liefern", sagte Müller. Mit einer verantwortlichen Politik habe das nichts zu tun. "Oskar Lafontaine ist eine besondere Form der Ich-AG", sagte der CDU-Politiker.

Auch der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) kritisierte Lafontaines geplanten Auftritt scharf. "Eine solche Plattform eignet sich nicht, damit sich ein Napoleon von der Saar endlich sein selbst gewähltes Exil von Elba beenden kann", sagte Tiefensee dem Internetmagazin "Spiegel Online".

Schröder betonte in der ARD, die Menschen im Osten hätten große Aufbauleistungen vollbracht. Sie hätten sich gewaltig umstellen müssen, anders als viele im Westen. Ähnlich äußerte sich SPD-Chef Franz Müntefering. Auch Merkel warnte vor einer drohenden Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschen. In der "Bild"-Zeitung warb sie zugleich um Verständnis für die Montagsdemonstrationen.

Politiker warnen vor Spaltung

Angesichts der anhaltenden Anti-Hartz-Proteste haben führende Politiker von SPD und CDU vor einer neuen Ost-West-Spaltung gewarnt. Bundeskanzler Gerhard Schröder betonte am Montag: "Niemand, der verantwortlich politisch arbeitet, kann irgendein Interesse an einem Ost-West-Gegensatz haben." CDU-Chefin Angela Merkel erklärte: "Solange wir die Schuld immer beim jeweils anderen suchen, gibt es die Gefahr, dass die Kluft zwischen Ost und West wächst." Die Gegner der Arbeitsmarktreformen erwarteten am Montag wieder zehntausende Teilnehmer zu Protestmärschen.

Die IG Metall ist nach eigenen Angaben bei den Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland eine treibende Kraft. Der IG-Metall-Bezirksleiter für Berlin, Brandenburg und Sachsen, Olivier Höbel, sagte dem "Tagesspiegel", man spiele eine maßgebliche Rolle. Die aktuellen Proteste gegen die Sozialpolitik könnten dazu führen, dass die Arbeitnehmer wieder mehr Selbstbewusstsein bekommen, um auch den Arbeitgebern etwas entgegenzusetzen. Er habe den Eindruck, dass die Gewerkschaft angesichts des Mitgliederschwunds wieder Fuß fasse, sagte Höbel. Die IG Metall hatte im Osten im Vorjahr vergeblich für die Einführung der 35-Stunden-Woche gestreikt.

(ap)
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